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Jahresversammlung

Geist – Gehirn – Genom – Gesellschaft

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Jahresversammlung 2013 der Leopoldina

Datum: Freitag, 20. bis Sonntag, 22. September 2013
Ort: Leopoldina, Jägerberg 1, 06108 Halle (Saale)

Wir stehen an der Schwelle zu einem neuen Bild von uns selbst, ein zukünftiges Bild, das momentan nur in ganz vagen Zügen zu erkennen ist. Während wir noch diskutieren, inwieweit Geist und Gehirn zwei Seiten der gleichen Medaille sind, entstehen genetische Erklärungsmodelle, die die geistigen Merkmale mit einem kleinen Umweg über das Gehirn durch genotypische Faktoren zu erklären versuchen. Zeitgleich zeigt die Epigenetik, wie gesellschaftliche Ereignisse die Auswahl derjenigen Gene verändern, die tatsächlich in einem Organismus zum Einsatz kommen. Letztendlich beschreibt die Epigenetik somit einen der vielen Pfade, mit denen gesellschaftliche Faktoren als synaptische Gewichte materialisiert zu einem Teil unseres Denkens und Handelns werden. Doch wie resultiert das Individuum aus der Ko-Konstruktion von Geist, Gehirn, Genom, und Gesellschaft?

Die individuelle Architektur von Kognition, Affekt, Handeln lässt sich weder allein aus der Neurobiologie noch allein aus kulturellen Faktoren ableiten. Der menschliche Geist resultiert vielmehr aus dem Wechselspiel von Gehirn und Gesellschaft. An diesen dualen Interaktionsprozess haben wir uns gewöhnt. Nun müssen wir in diese Ko-Konstruktion aber auch die genetischen Faktoren inkorporieren, die mit rasender Geschwindigkeit neue Erkenntnisse schaffen, aber auch gänzlich neue Fragen aufwerfen. Wir kennen die Sequenz des menschlichen Genoms mit seinen über drei Milliarden Basen, aber auch diejenige von Hefe und vielen anderen Organismen. Wir können heute ein Hefe-Gen durch ein menschliches ersetzen; die Hefe kann damit leben. Wir können Organismen neue Eigenschaften verleihen, etwa Mais gegen Schädlinge schützen oder die Wirksamkeit zellulosebasierter Spritproduktion (E10) steigern. Wir beginnen Erbkrankheiten zu verstehen, zum Beispiel Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) und Chorea Huntington, und können genetische Risikofaktoren für verschiedene Arten von Krebs einschätzen. Der Zugriff auf die eigenen spezifischen Basensequenzen ist mit weniger als tausend Euro bald für viele möglich. Wir können die Gene unserer potentiellen Nachkommen ermitteln aber sollten wir sie unter bestimmten Randbedingungen selektieren dürfen? Sollten wir Ausnahmen erlauben, etwa um bestimmte Erbkrankheiten auszulöschen? Und wie gehen wir mit dieser Diskussion um, wenn wir die genetischen Mechanismen psychischer Prädispositionen entschlüsselt haben?

Mittlerweile muss die Trias aus Geist, Gehirn und Genom um die Epigenetik erweitert werden, die die gesellschaftlichen Faktoren wieder stärker in den Fokus rückt. Die ersten Untersuchungen an Menschen belegen, was wir aus den epigenetischen Forschungen am Tier schon seit einer Dekade wissen: die Auswahl der tatsächlich exprimierten Gene wird durch unsere Umwelt verändert, eine Regulation, die bereits im Mutterleib beginnt. Wir können beispielsweise die Wahrscheinlichkeit ermitteln, mit der die Mutter eines 10-jährigen während ihrer Schwangerschaft fortgesetzter Gewalt ausgesetzt gewesen war. Dann nämlich wird aus dem gleichen Genom ein anderer Mensch mit einer anderen Stressachse, einem anderen Gehirn konstruiert, in dem sich ein anderer Geist beheimaten wird. Die Genexpression gerade im neuronalen Bereich wird durch psychosoziale Bedingungen moduliert. Somit verändern wir physisch unsere Gehirne sowie die der folgenden Generationen durch Veränderungen der Umwelt. Sind wir uns dieser Konsequenzen bewusst?

Das 4G-Netzwerk „Geist, Gehirn, Genom und Gesellschaft“ schafft Probleme und Möglichkeiten, deren Tragweite wir momentan nur erahnen können. Aber in seinem Kern stellt dieses Netzwerk mit neuen Erkenntnissen eine der ältesten Fragen der Menschheit: wie wurde ich zu der Person, die ich bin?

Foto: © Elke Vogelsang