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Nova Acta Leopoldina Band 110 Nummer 377

1.   Welchen Dienst leistet die Mathematik bei der Naturbeschreibung? Mit den Anfängen der neuzeitlichen Astronomie und Physik rückt die mathematische Natur- beschreibung ins zentrum der wissenschaftlichen Forschung. Galileo GALILEIS berühmtes zitat, „[...] Die Wissenschaft (Philosophie) steht in diesem großen Buch geschrieben, dem Universum, das unserem Blick ständig offen liegt. Aber das Buch ist nicht zu verstehen, wenn man nicht zuvor die Sprache erlernt und sich mit den Buchstaben vertraut gemacht hat, in denen es ge- schrieben ist. Es ist in der Sprache der Mathematik geschrieben, und deren Buchstaben sind Kreise, Dreiecke und andere geometrische Figuren, ohne die es dem Menschen unmöglich ist, ein einziges Wort davon zu verstehen; ohne diese irrt man in einem dunklen Labyrinth herum. […]“,1 bringt dies unmissverständlich zum Ausdruck. Die Physik hat sich in der Folge ganz nach dem Wunsche, mit Hilfe der Mathematik im großen Buch zu lesen, entwickelt. Dies wird in einem zweiten, allgemein bekannten und fälschlich auch GALILEI zugeschriebenen zitat (KLEI- NERT 2009) zur Forderung erhoben: „[...] Wer naturwissenschaftliche Fragen ohne Hilfe der Ma- thematik lösen will, unternimmt Undurchführbares. Man muss alles messen, was messbar ist, und (versuchen) messbar (zu) machen, was noch nicht messbar ist. […].“ Empirie, Quantifizie- rung und Mathematisierung der Naturbeobachtung haben den Triumphzug der physikalischen Wissenschaften initiiert und überaus erfolgreich in den folgenden Jahrhunderten begleitet. Mathematisierung einer Naturbeobachtung bedeutet immer Reduktion eines komplexen Ge- schehens, bedeutet beschränken auf das für das Erkennen von zusammenhängen Wesentliche. Stellen wir uns vor, Isaac NEWTON (1686) wäre nicht von der Idee ausgegangen, ein möglichst einfaches, allgemein gültiges Fallgesetz zu finden, sondern hätte einen Katalog aufgestellt über das Fallen von Federn, Papierfliegern, Bumerangs, Fallschirmspringern, äpfeln, und Steinen. Wir wissen nicht, was herausgekommen wäre – das Fallgesetz wäre es nicht gewesen. Ohne zweifel sind physikalische Systeme wesentlich einfacher als biologische, aber Probleme bereiten sie auch. Ein gutes Beispiel ist die Wettervorhersage. Niemand wird bezweifeln, dass Wetter ein physikalisches Phänomen der Erdatmosphäre ist. Vor fünfzig Jahren entsprach dessen ungeachtet der tägliche Wetterbericht mehr einer, der Volksbelustigung dienenden Lotterie als einer ernsten wissenschaftlichen Prognose. Dies hat sich geändert, denn die zahl der Messstationen wurde ge- waltig erhöht, und verfeinerte Wettermodelle, die auf einer Weiterentwicklung der Mathematik und massivem Einsatz von Computern basieren, haben die Vorhersage entscheidend verbessert. Nichtsdestoweniger gibt es (zumindest zurzeit) nicht lösbare Probleme: Trotz einer perfekten Theorie für die Entstehung von Hurrikans ist es beispielsweise nicht möglich vorherzusagen, wann und wo ein Hurrikan entstehen wird. Die Physik der Atmosphäre gibt die Bedingungen vor: Eine Wasseroberflächentemperatur von 27 °C oder mehr und atmosphärische Druckdiffe- renzen sind für die Entstehung von Wirbelstürmen unerlässlich, aber Ort und zeit derAusbildung des Wirbelsturmes sind von unkontrollierbaren und unmessbaren kleinen Schwankungen abhän- gig, welche durch den Mechanismus der Bildung des Hurrikans verstärkt werden. Die Mathematik leistet drei ganz wesentliche Beiträge zu den Erfolgen der Naturwissen- schaften: – Eine gelungene Beweisführung eines Theorems bietet – im Rahmen der Gültigkeit des ver- wendeten Modells – die endgültige, interpretationsfreie Antwort auf die gestellte Frage; Mit Mathematik und Computer auf Entdeckungsreisen in der Evolutionsbiologie Nova Acta Leopoldina NF 110, Nr. 377, 167–211 (2011) 169 1 GALILEI 1896, p. 232. Transcript und möglichst wortgetreue deutsche übersetzung von ‚Der Prüfer‘ 1623.