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Nova Acta Leopoldina Band 110 Nummer 377

Es scheint, dass dieser Tag nicht mehr allzu lange auf sich warten lassen wird. In der System- biologie wird versucht, ganze zellen oder sogar Organismen auf molekularer Ebene zu mo- dellieren. Es wird dringend notwendig sein, eine echte Synthese der beiden Disziplinen durchzuführen, um eine fruchtbringende Ergänzung zu erreichen. Verwirrende molekulare Details und schwer zu kontrollierende Datenmengen stehen beispielsweise den zwar mathe- matisch präzise definierten, aber mechanistisch unklaren Effekten der Populationsgenetik ge- genüber. Es wird der Ruf immer lauter nach einer einheitlichen, umfassenden theoretischen Biologie (BRENNER 1999), die naturgemäß um Evolutionstheorie und Entwicklungsbiologie herum zentriert sein müsste, ganz in Sinne einer Theorie für Evo-devo (Evolution and deve- lopment). Beispiele äquivalenter oder fast äquivalenter Beschreibungen gibt es zu Genüge: Spieltheorie und Differentialgleichungen für dynamische Spiele wurden erwähnt (Anschnitt 5.3), die Populationsgenetik asexueller reproduzierender Organismen und die molekularkine- tische Theorie der Evolution bilden einen weiteren Fall (WILKE 2005). Es braucht nicht betont zu werden, dass die Biologie, insbesondere die gegenwärtige mo- lekulare Biologie eine Wissenschaft des Komplexen schlechthin ist. Eine oft gestellte Frage betrifft daher den Ursprung von Komplexität in der biologischen Evolution. Aus der Sicht der kinetischen Evolutionstheorie kann diese Frage zumindest teilweise beantwortet werden. Die Differentialgleichungen, die stochastischen Prozesse und insbesondere ihre Lösungen mögen kompliziert sein, komplex sind sie nicht. Hier steckt die Komplexität in den Beziehungen zwi- schen Genotypen und Phänotypen, welche bei höheren Organismen auch die gesamte Ent- wicklung von der befruchteten zelle bis zum erwachsenen Phänotyp mit einschließen. Bei der Evolution der überaus unübersichtlichen genetischen Regulationsnetzwerke kommt es zu Du- plikationen von ganzen Genomen, wobei dann in der Folge der größte Teil der duplizierten Gene wieder verloren geht und die verbliebenen und neuen Gene in einer mehr oder minder zufälligen Reihenfolge hinterlässt (KELLIS et al. 2004). Man muss sich auch in Erinnerung rufen, dass der Löwenanteil des menschlichen Genomes in RNA-Moleküle transkribiert wird, von deren Funktionen wir zurzeit nur eine ganz vage Vorstellung haben (Encode Project Con- sortium 2007). Jedenfalls ist noch für viele überraschungen in der zukünftigen Biologie ge- sorgt, Mathematik und Computersimulation werden ein ungeheuer weites Betätigungsfeld finden. Anmerkung nach Redaktionsschluss Nach Fertigstellung des Manuskriptes ist im Wissenschaftsjournal Nature eine augenscheinlich grundlegende Arbeit zu dem auf der Seite 204 angesprochenen Thema der „Verwandten - selektion – Inclusive Fitness“ erschienen (NOWAK et al. 2010), die in der soziobiologischen Community einiges Aufsehen erregt und eine Menge Widerspruch geerntet hat (OKASHA 2010). Die Autoren zeigen mit Hilfe einer sorgfältigen mathematischen Analyse, dass der Begriff der Verwandtenselektion entbehrlich erscheint und die beobachteten Fälle von Altruismus durch eine „richtig angewandte“ konventionelle Theorie der natürlichen Selektion einfacher und besser erklärt werden können. Nova Acta Leopoldina NF 110, Nr. 377, 167–211 (2011) Peter Schuster 206