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Nova Acta Leopoldina Band 110 Nummer 377

5.   Linguistische Modelle Es gibt eine berühmte These des Philosophen Ludwig WITTGENSTEIN aus seinem Tractatus Logico-Philosophicus (1921), die lautet: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ Mit dieser These wird impliziert, dass alles Psychische sich auch sprachlich ab- bildet; was sich in der Sprache nicht abbildet, bleibt unzugänglich und ist somit auch nicht modellierbar. Das linguistische Modell ist ohne Frage außerordentlich mächtig und bestimmt vielerorts die Landschaft psychologischer Forschung. Mit dem linguistischen Modell stehen wir auch in der Tradition des Rationalismus, der das moderne Denken dominiert. Im Discours de la méthode (1637) formuliert wiederum René DESCARTES Regeln des Denkens, wobei in diesem zusammenhang die erste Regel bedeutsam ist, nämlich Probleme klar und deutlich zu formulieren, wenn man sie behandeln will, also explizit verfügbar zu machen, und dies ge- schieht üblicherweise in der Sprache. Als späte Folge dieses Denkens kann die „klassische Künstliche Intelligenzforschung“ angesehen werden, in der eine Algorithmisierung des Psy- chischen auf der Grundlage verbaler äußerungen möglich erschien, was sich dann aber als Irrtum erwies. Was mag der Grund für die Attraktivität des linguistischen Modells sein? Offenbar haben Menschen ein unmittelbares Bedürfnis nach Reduktion von Komplexität (RIPPL und RUHNAU 2002), und eine erfolgreiche Komplexitätsreduktion ist dann gelungen, wenn man einen Be- griff identifiziert hat. Diese Ontologisierung der Welt führt dann zu einem „zoo“ von Begrif- fen, und man steht in Gefahr, will man Modelle des Psychischen oder sogar eine Taxonomie entwickeln, dass man in eine Sprachfalle gerät. Indem man einen Begriff entwickelt hat, ist damit noch nicht der dahinter liegende neuronale Prozess erfasst, da es bei der Entwicklung von Begriffen in erster Linie um die Kommunikation von Sachverhalten geht, die naturgemäß in expliziter Sprache stattfindet, dabei aber viele intervenierende Variable des dahinter liegen- den generierenden Prozesses unterschlagen werden. Im linguistischen Modell muss also aus sekundären Gründen, wegen der begrifflichen Beschreibung der Welt und deren Kommuni- kation, auf Wichtiges verzichtet werden, was das Psychische ausmacht. Und man wird des Weiteren in die phrenologische Falle gelockt, nämlich nach der Lokalisation von sprachlich fixierten psychischen Inhalten zu suchen. Trotz dieser offenkundigen Einschränkungen muss aber betont werden, dass das linguistische Modell ein beherrschendes Paradigma der Psycho- logie darstellt (POEPPEL und HICKOK 2004). zu den linguistischen Modellen sind auch jene zu rechnen, die mit Hilfe von statistischen Verfahren aus Daten, die mit Fragebögen erhoben werden, Strukturen des Psychischen zu be- stimmen suchen. Bei der Beschreibung von Persönlichkeitsstrukturen mit Hilfe solcher Ques- tionnaires hat sich ergeben, dass letzten Endes nur fünf Merkmale erforderlich sind, um jemanden zu charakterisieren; dies sind die sogenannten „Big Five“, nämlich Extraversion, emotionale Stabilität oder Labilität, Friedfertigkeit oder Aggressivität, Offenheit und schließ- lich zuverlässigkeit oder Fleiß. Es ist erstaunlich, dass diese Faktoren offenbar für alle Kul- turen gelten, dass sich also sprachlich abbildbar und durch Befragung feststellbar stets ein gleiches Grundmuster finden lässt, das für alle Menschen gilt. Die Begriffe zeigen aber bereits, dass hier auf einer sehr groben Granularitätsebene operiert wird, und dass für die Entwicklung einer Taxonomie psychischer Funktionen die einzelnen Faktoren ihrerseits zerlegt werden müssen. Eine weitere Einschränkung für die Gruppe der linguistischen Modelle, die von einer ex- pliziten Wissensrepräsentation ausgehen, ergibt sich aus anderen Erkenntnissen der Psycho- Nova Acta Leopoldina NF 110, Nr. 377, 213–233 (2011) Ernst Pöppel und Eva Ruhnau 222