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Nova Acta Leopoldina Band 110 Nummer 377

1.   Einführung Wann würde ein freier Mensch wollen, dass wir seine Gedanken erraten können? In dem Roman Der Graf von Monte Christo beschreibt Alexandre DUMAS in der Figur des alten Noir- tier de Villefort die Lebens- und Leidenssituation eines Menschen mit „Locked-in“-Syndrom: „[…] unbeweglich an allen Gliedern, wach allein der Geist, wie eine Statue mit lebendigen Augen“. Die Neurologie kennt eine Vielzahl von Ursachen derartiger Dissoziationen mit er- haltenen Großhirnfunktionen bei weitestgehender Lähmung – von der Tetraplegie bei hoch- zervikaler Querschnittslähmung über den bilateralen pontinen Hirnstamminfarkt bis zu den Vollbildern von amyotropher Lateralsklerose oder Guillain-Barré-Syndrom. Für diese Patien- ten würde das „Erraten“ ihrer Gedanken eine Vision des Wiedergewinns ihrer Wirkmächtigkeit in der Welt eröffnen: Maschinen zu steuern, allein durch die „Kraft ihrer Gedanken“, vom motorisierten Rollstuhl über PC-Anwendungen, z. B. in Form von Textverarbeitungssystemen oder Internet-Browsern, bis hin zum neuroprothetischen aktiven Exoskelett. Solche Systeme, die Hirnsignale dekodieren können, ohne dass periphere Nerven oder Muskelaktivität ausge- nutzt werden, bezeichnet man als Brain-Computer-Interfaces (BCI). Erste Erfolge von BCI-Systemen beruhten auf dem Ansatz, dass Anwender die Benutzung dieser neuen Mensch-Maschine-Schnittstelle in einem Feedback-Szenario erlernen. So wurden beim „Tübinger Thought Translation Device“ langsame, per EEG gemessene DC-nahe Hirn- potentiale von zentraler Skalpposition in die vertikale Bewegung eines Bildschirm-Cursors umgesetzt.Auf diese Weise konnten Patienten die willkürliche Erzeugung kortikaler Positivität oder Negativität erlernen und als zwei Ausprägungen einer Steuerungsgröße einsetzen. Nach intensivem, zum Teil wochenlangem Training vermochten sie mit diesen binären Entschei- dungen ein Textprogramm zu bedienen und schriftlich mit ihrer Umwelt zu kommunizieren (vgl. BIRBAUMER et al. 1999 und Clip auf DVD → MüLLER et al. → Training). Das Grazer BCI-System beruht auf ereignisbezogenen Modulationen des regionalen μ- und/oder β-Rhythmus des EEGs über der somatotopen, sensomotorischen Hirnrinde (ERD: Event-Related Desynchronisation). Als „Ereignisse“ finden Bewegungsvorbereitungen oder vorgestellte Bewegungen Anwendung. Aus den EEG-Rhythmen werden, z. B. durch auto- regressive Modellierung, Merkmalsvektoren extrahiert, auf deren Basis Klassifikatoren trai- niert werden können. Exemplarisch gelang es damit einem Patienten innerhalb weniger Tage, eine funktionell wertvolle Kontrolle über eine aktive Neuroprothese zu gewinnen. Er konnte damit z. B. Greif- und Grifflösekommandos zielgerichtet einsetzen (vgl. MüLLER-PUTz et al. 2005). Im BCI-Projekt der Gruppe in Albany (USA) wurde ein System entwickelt, das einem querschnittsgelähmten Benutzer nach längerem Training erlaubt, einen Cursor durch uni- ver- sus bilaterale ERD in horizontaler versus vertikaler Richtung auszulenken, so dass eine zwei- dimensionale Steuerung eines Cursors auf einem PC-Bildschirm erreicht werden konnte (vgl. WOLPAW and MCFARLAND 2004). Ein potentiell problematischer Aspekt liegt bei allen ERD-basierten BCIs allerdings darin, dass Bewegungsvorbereitung und -ausführung physiologisch von einer Suppression perizen- traler Rhythmen begleitet sind – für die Steuerung des BCI wird also ein „Negativ“-Signal eingesetzt. Damit eine Suppression, d. h. ein ERD, als BCI-Signal zur Steuerung eingesetzt werden kann, muss ein supprimierbarer, spontaner Hirneigenrhythmus vorausgesetzt werden (vgl. BLANKERTz et al. 2010b). In diesem zusammenhang ist es erwähnenswert, dass etwa bei Patienten mit amyotropher Lateralsklerose und Degeneration im System des ersten Motoneu- Forschen an einer neuen Schnittstelle zum Gehirn: Das Berliner Brain-Computer-Interface Nova Acta Leopoldina NF 110, Nr. 377, 235–257 (2011) 237