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Nova Acta Leopoldina Band 110 Nummer 377

Ich möchte meinen Ausführungen einige Behauptungen voranschicken, die in der Neurobio- logie als implizite Annahmen gelten. Niemand erwähnt sie mehr, da alle davon ausgehen, dass sie allgemein bekannt und akzeptiert sind, auch in der breiteren öffentlichkeit. Deshalb scheint es mir wichtig, noch einmal kurz zusammenzufassen, wovon Neurobiologen über- zeugt sind. Sie gehen davon aus, dass alles Wissen, welches wir über die Welt haben können, in unseren Gehirnen gespeichert ist, und zwar in der funktionellen Architektur des Gehirns. Es ist wichtig, dies zu betonen, weil es ein großes Missverständnis gibt – man immer glaubt, Gehirne würden so funktionieren wie Computer. Dies aber trifft nicht zu. Beide sind zwar informationsverarbeitende Systeme, aber Gehirne sind völlig anders aufgebaut. Sie lassen sich nicht unterteilen in Rechenwerk, Arbeitsspeicher und Programmspeicher. Im Gehirn gibt es nur Nervenzellen, die auf besondere Art und Weise miteinander verschaltet sind. Hier lie- gen die einzigen Freiheitsgrade, die Gehirne haben. Nervenzellen funktionieren immer un- gefähr nach den gleichen Prinzipien, die sehen an unterschiedlichen Stellen unterschiedlich aus, weil sie sich an die anatomischen Gegebenheiten anpassen müssen und unterschiedlich weit ihre Fasern aussenden, was Rückwirkungen auf die Struktur dieser kleinen zellen hat. Aber die Funktionsweise ist immer die gleiche – sie sammeln Signale von anderen Nerven- zellen über ihre Dendritenbäume ein, integrieren diese und, wenn genügend Erregung zu- sammenkommt, dann erzeugen sie ein Aktionspotenzial, einen kurzen elektrischen Impuls, der etwa eine tausendstel Sekunde lang ist. Dieser wird dann fortgeleitet und über Verzwei- gungen des Axons auf zig-tausend andere zellen weiterverteilt. Die Funktionen des Systems werden durch die Architektur der Verschaltung vorgegeben. Alles Wissen, die Regeln, nach denen dieses Wissen erworben, verwaltet und angewandt wird, um Reaktionen zu erzeugen – alles das residiert in der funktionellen Architektur des Systems. Nervenzellen können über erregende oder hemmende Verbindungen miteinander kommunizieren, und diese Verbindun- gen können stark oder schwach sein. Die Komplexität der resultierenden Nervennetze ist un- vorstellbar. Im Gehirn gibt es etwa 1011 Nervenzellen, das ist eine 10 mit 11 Nullen, von denen jede einzelne ihre Informationen, also diese kurzen elektrischen Impulse, an etwa 10000 bis 20000 andere verteilt. Von ebenso vielen anderen zellen erhält eine einzelne Ner- venzelle ihrerseits Informationen über synaptische Kontakte. Die Partner können dabei in unmittelbarer Nachbarschaft, aber auch weit entfernt liegen. In diesen Verschaltungen ist alles festgelegt, was Gehirne können. Ferner gehen Neurobiologen davon aus, dass alle Funktionen, die wir an uns und unserem Gegenüber beobachten können, auf neuronalen Prozessen beruhen. Das schließt die höchsten kognitiven Leistungen mit ein, also unsere Wahrnehmungen, subjektiven Empfindungen, Emotionen, kurz all das, was man in den Humanwissenschaften im Allgemeinen mit „das Geistige“ umschreibt. Wir gehen davon aus, dass neuronale Prozesse allen Empfindungen, Entscheidungen, Gedanken und Verhaltensäußerungen vorausgehen, und diese ursächlich be- wirken. zurzeit gibt es keinerlei Hinweise darauf, dass „geistige“, also immaterielle, Prozesse auf Nervenzellen einwirken könnten, damit diese ausführen, was der geistige Prozess will. Vorgängig sind immer die neuronalen Prozesse, und diese manifestieren sich dann als Hand- lungen, oder Inhalte des Bewusstseins. Dann gehen Hirnforscher davon aus, dass alle neuro- nalen Prozesse den bekannten Naturgesetzen folgen. Alle Evidenz spricht dafür, dass wir keine zusatzannahmen machen müssen, um das Verhalten von Tieren durch die Funktion ihrer Ner- vensysteme erklären zu können. Es gibt noch Lücken, aber offenbar prinzipiell kein Hindernis, auch alle Leistungen von Menschen auf neuronale Prozesse zurückzuführen und diese wie- derum auf der Basis der geltenden und bekannten Naturgesetze zu erfassen. Auch hier müssen Wer regiert im Kopf? – Philosophische Implikationen der Hirnforschung Nova Acta Leopoldina NF 110, Nr. 377, 325–352 (2011) 327