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Nova Acta Leopoldina Band 110 Nummer 377

wir bislang keine zusatzannahmen machen. Es gibt keine wissenschaftlich gesicherte Beob- achtung, die uns zwänge, Mechanismen zu postulieren, für die wir keine naturwissenschaftli- chen Erklärungsmodelle haben. Nun will ich diese Behauptungen etwas differenzieren. Die funktionelle Architektur des menschlichen Gehirns verdankt sich zum einen seiner genetischen Anlage – und in dieser ge- netisch vorgegebenen Struktur ist bereits Wissen über die Welt niedergelegt. Aber die Funk- tionsweise menschlicher Gehirne wird während eines langen Entwicklungsprozesses zudem nachhaltig von Umwelteinflüssen geprägt. Wenn Menschen geboren werden, sind deren Ge- hirne noch extrem unreif. Es existieren nur die Verschaltungen, die notwendig sind, um das kleine Baby am Leben zu erhalten. Ein Großteil der Verbindungen der Großhirnrinde, die für die hohen kognitiven Leistungen Erwachsener zuständig sind, wird erst viel später ausgebildet. Die Nervenzellen sind zwar schon fast alle geboren, aber sie sind noch unverbunden. Dann wachsen in einem langen Reifungsprozess, der sich etwa bis zum 20. Lebensalter fortsetzt, Nervenverbindungen aus – wobei sehr viel mehr Verbindungen angelegt werden, als letztlich übrig bleiben. Etwa 30–40 % der einmal gebildeten Verbindungen werden wieder einge- schmolzen, und dieser Umbauprozess erfolgt unter der strukturierenden Einwirkung von neu- ronaler Aktivität. Diese wird natürlich ihrerseits wieder durch Sinnessignale nachhaltig beeinflusst und moduliert. Daraus folgt, dass die Erfahrungen, die wir nach der Geburt machen, strukturierend in die Gehirnentwicklung eingreifen und die Verbindungsarchitektur, also die schon oft erwähnte funktionelle Architektur, verändern. Das führt dazu, dass wir, obgleich wir ungefähr die gleiche genetische Ausstattung haben wie Steinzeitmenschen – wie Höhlen- bewohner –, über Gehirne verfügen, die in der Endausformung vermutlich wesentlich kom- plizierter verschaltet sind als die Gehirne unserer Vorfahren. Wir haben alle einen langen Entwicklungsprozess durchgemacht, der eingebettet in unser sozio-kulturelles Umfeld, auf sehr viel mehr Informationen zurückgreifen konnte und in Gehirnverschaltungen umsetzte, als dies für die Menschen damals möglich war. Deshalb können fast alle heutigen Menschen Autofahren und manche Symphonien komponieren und Differenzialgleichungen lösen. All diese Leistungen müssen von der funktionellen Architektur der jeweiligen Gehirne getragen werden. Im Gehirn wirken keine virtuellen Programme – keine immateriellen Agenten –, alle Hirnleistungen beruhen auf Verschaltungen, die genetisch angelegt sind und durch Lernen modifiziert werden. Lernen beruht auf Verschaltungsänderungen – es wachsen keine neuen Verbindungen aus, sondern die Kopplungsstärken bestehender Verbindungen werden modi- fiziert. Nach der Stunde, die wir zusammen verbringen, werden sowohl in Ihrem als auch in meinem Gehirn Myriaden von Nervenverbindungen in ihrer Wertigkeit ein wenig verstärkt oder abgeschwächt worden sein. Wir müssen dann irgendwann schlafen, damit diese Verän- derungen konsolidiert und die entstehenden Ungleichgewichte normalisiert werden können. Nach diesen Behauptungen ist es notwendig, einige erkenntnistheoretische Warnungen auszusprechen. Dies ziemt sich vor allem für Hirnforscher. Denn wir sollten uns mehr noch als die Vertreter anderer Wissensdisziplinen darüber im Klaren sein, dass wir natürlich nur erkennen, erdenken und uns vorstellen können, was die kognitiven Funktionen unseres Ge- hirns uns zu erfassen erlauben. Und, wie ich gleich ausführen werde, sind diese Leistungen mit ganz großer Wahrscheinlichkeit sehr eingeschränkt. Das Gehirn hat sich wie alle anderen Organe, wie der Organismus selbst, im Lauf der Evolution herausdifferenziert und an die Bedingungen der vorgefundenen Welt angepasst, wie der Vogelflügel an den Luftraum und die Fischflosse an das Wasser. Diese Anpassungen erfolgten an jenen Bereich der Welt, in dem sich Leben entwickeln konnte. Und dies ist ein extrem schmaler Ausschnitt des uns bis Nova Acta Leopoldina NF 110, Nr. 377, 325–352 (2011) Wolf Singer 328