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Nova Acta Leopoldina Band 110 Nummer 377

mehr zwischen nah benachbarten Konturen unterscheiden. Dennoch haben wir den Eindruck, die gesamte Szene scharf abgebildet vorAugen zu haben. Der Grund ist, dass wir unsere Wahr- nehmungen auf der Basis von Erinnerungen und Vorstellungen rekonstruieren. Würde man in diesem Raum irgendetwas verändern, dann würden wir dies überhaupt nicht wahrnehmen, wenn nicht zufällig unsere Aufmerksamkeit gerade dort lag. Diese Blindheit gegenüber Ver- änderungen ist Folge der konstruktivistischen Natur unserer Wahrnehmung und unserer se- lektiven Aufmerksamkeit. Beide Phänomene sind für eine Vielzahl von Fehlleistungen verantwortlich, und die zauberer leben davon. Künstler haben das natürlich auch erkannt und nutzen es aus, um Effekte zu erzielen. In dem Bild La condition humaine erzeugt René MAGRITTE (1898–1967) durch die Farben auf einer Leinwand die gleichen Verteilungen von elektromagnetischen Wellen, die von der da- hinter liegenden Szene gekommen wären (Abb. 2). Und hätte er nicht hier noch einen Lein- wandsaum eingezeichnet und die Staffeleifüße dazu, das Bild würde vollkommen mit dem Hintergrund verschmelzen. Es wäre nicht herauszufinden, dass es sich hier um ein Gemälde vor einer wirklichen Szene handelt. Die Tromp d’oeil-Malerei beruht auf dem gleichen Prinzip. Oft ist zu beobachten, dass nicht nur Kinder in solchen Ausstellungen dann ganz nah hingehen und versuchen, die Objekthaftigkeit durch Betasten zu überprüfen. Durch Nachahmung der Wellenverteilung, die ein echtes Objekt auf der Netzhaut erzeugte, was man natürlich durch zweidimensionale Bilder ohne weiteres erreichen kann, lassen sich perfekte Illusionen erzeu- gen. Damit stellt sich die Frage, wie viel von dem, was wir ständig als gegeben wahrnehmen, solch „illusionären“ Charakter hat. Lassen Sie mich ein weiteres Beispiel dafür geben, wie aktiv unser Gehirn bei der Inter- pretation von Sinnessignalen vorgeht. Entscheidet sich das Sehsystem bei Betrachtung der Abbildung 3, dass das Weiße die Figur ist, dann sieht man diese schöne Vase. Entscheidet sich das System aber, dass die Figur das Schwarze ist, dann sieht man zwei Gesichter – des Prinz- gemahls und der Königin vor vielen, vielen Jahren – als das Beispiel erfunden wurde – von Herrn RUBIN – einem Engländer. Solche Entscheidungen gehen jeder Wahrnehmung voraus, immer ist zu entscheiden: was ist Vordergrund? – was Hintergrund? – was gehört zur Figur? In unserem Gehirn sind Regeln gespeichert, die uns dazu in die Lage versetzen. Diese sogenannten Gestaltprinzipien wurden zum großen Teil in Frankfurt erarbeitet, von den Gestaltpsychologen wie KOFFKA, WERTHEI- MER und KOHLER. Viele von ihnen mussten, weil sie Juden waren, von diesem Kontinent flie- hen und haben dann in Amerika die Gestaltpsychologie zur Blüte gebracht. Dann gibt es bildliche Darstellungen, die in der dreidimensionalen Welt keine Entspre- chung haben können. Hier werden durch lokale geometrische Bezüge dreidimensionale Ob- jekte erzeugt, die in globaler Ansicht unmöglich sind. All diese Beispiele belegen, dass Wahrnehmen auf der Rekonstruktion von Sinnessignalen beruht, die relativ spärlich sind – gemessen an dem, was insgesamt aus der Welt extrahiert werden könnte. Für diese versucht das Gehirn, die jeweils plausibelste Interpretation zu finden. Dies wiederum erfordert unge- heuer viel Vorwissen über die Bedingungen der Welt, an die sich die Organismen und deren Gehirne angepasst haben. Wenn das, was dargeboten wird, den Gesetzmäßigkeiten nicht ent- spricht, die wir antizipieren, kann es passieren, dass wir überhaupt nicht wahrnehmen. Was wir und wie wir wahrnehmen, wird also festgelegt durch unser Vorwissen. Ein großer Teil die- ses Vorwissens wurde im Lauf der Evolution in unsere Gehirne eingeprägt, weshalb wir einen erheblichen Teil dieses Wissen mit anderen Tieren gemeinsam haben. Sie erliegen deshalb auch den gleichen Täuschungen wie wir. Nova Acta Leopoldina NF 110, Nr. 377, 325–352 (2011) Wolf Singer 332