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Nova Acta Leopoldina Band 110 Nummer 377

wir nicht dabei waren, als es erworben wurde – über die vielen Jahrmillionen hinweg. Dann gibt es das erfahrungsabhängige Wissen, welches in der frühen Entwicklung erworben wird. Auch von diesem wissen wir wenig, weil es das Phänomen der frühkindlichen Amnesie gibt. Bis zum 3./4. Lebensjahr etwa lernt man zwar sehr viel, speichert aber nicht gleichzeitig ab, in welchem Kontext man etwas gelernt hat. Man weiß dann, aber man weiß nicht, warum man weiß. Das kindliche Wissen ist genau von dieser Beschaffenheit. Wenn man mit Kindern diskutiert, dann hört man Behauptungen wie: ja, Mama, das ist so – fragt man nach: woher weißt du das? – dann folgt meist, weil das so ist. Wieder handelt es sich um Wissen, dessen Verursachung nicht bekannt ist, in diesem Fall nicht erinnert wird. Deshalb wird es zu ver- absolutierendem Wissen, das nicht relativierbar ist. Und auch dieses Wissen bestimmt die Art und Weise, wie wir wahrnehmen. Wenn wir alle ungefähr das gleiche Vorwissen haben, dann können wir uns in der Regel bezüglich unserer Wahrnehmungen einigen. Das gilt aber oft nicht für kulturell tradiertes Wissen und damit nicht für die Beurteilung von sozialen Rea- litäten. Vielleicht ist dies einer der Gründe für interkulturelle Konflikte. Unterschiedlich so- zialisierte Menschen nehmen dasselbe unterschiedlich wahr, aber erfahren es als Primärwahrnehmung, die sie nicht relativieren können. Es ist in solchen Fällen nicht möglich zu entscheiden, wer „recht“ hat – beide nehmen etwas Nicht-Hinterfragbares wahr. Wenn es sich um soziale Realitäten handelt, gibt es aber keinen Schiedsrichter, kein physikalisches Messinstrument, das sagen könnte, wer mehr recht hat. Was das für unseren Toleranzbegriff bedeutet, ist offensichtlich. Meist reduziert sich unsere Toleranz auf Permissivität. Wir er- kennen, dass andere anders wahrnehmen, und wenn es sich um eine Minorität handelt, gehen wir davon aus, dass sich die anderen täuschen, nehmen das aber „tolerant“ hin, solange das Abweichende nicht stört. Wie die vorangegangenen Argumente nahe legen, sollte man aber denen, die abweichende Wahrnehmungen haben, zubilligen, dass sie genauso Recht haben. Also wäre es verpflichtend, nicht Recht haben zu wollen, sondern Reziprozität einzufordern: Jedem wird zugestanden, soziale Realitäten anders wahrzunehmen, nur muss sich daraus ein respektvolles reziprokes Verhältnis entwickeln. Jeder muss dem anderen zubilligen, etwas anderes als zutreffend wahrzunehmen, aber es muss interveniert werden, wenn diese zubil- ligung verletzt wird und die aus abweichenden Wahrnehmungen abgeleiteten Handlungen die Würde des anderen missachten. Man darf nicht am Wahrheitsgehalt der jeweiligen Wahr- nehmung zweifeln, denn damit würde man sofort ein Ungleichgewicht einführen. Ein Argu- ment, welches auch für psychisch „kranke“ Menschen gilt, denn wer weiß denn schon, ob nicht die Weltsichten von Erkrankten die zutreffenderen sind – auch wenn sie nur die Mino- rität darstellen. Doch zurück zu den Wissensquellen. Man kann also die Evolution als kognitiven Prozess verstehen, durch den Wissen über die Welt im Gehirn installiert worden ist, und zwar über die Ausgestaltung von Architekturen, die von den Genen jeweils neu induziert werden, wenn sich ein Lebewesen entwickelt. Bedeutsam ist in diesem Kontext, dass die Evolution extrem konser- vativ ist, dass also vieles von dem, was wir über die Welt wissen, schon sehr früh in der Evolution erworben wurde. Organisationsprinzipien und Mechanismen, die sich bewährt haben, sind er- halten geblieben, weshalb viele von ihnen gleichermaßen im Nervensystem von Weichtieren und Primaten realisiert sind. Ich erinnere daran, dass Eric KANDEL – manche mögen den Film gesehen haben – seine Entdeckung über die molekularen Grundlagen von Lernprozessen an der Meeresschnecke Aplysia erarbeitet hat. Diese Mechanismen blieben unverändert die gesamte Evolution hindurch erhalten, offenbar weil sie sich bewährt haben. In diesen molekularen Pro- zessen ist bereits das Prinzip von Ursache und Wirkung, das Prinzip, dass Ursachen Wirkungen Wer regiert im Kopf? – Philosophische Implikationen der Hirnforschung Nova Acta Leopoldina NF 110, Nr. 377, 325–352 (2011) 335