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Nova Acta Leopoldina Band 110 Nummer 377

unterscheiden. Was kranke Gehirne von den gesunden abgrenzt – und ich werde ganz zum Schluss nochmals darauf zurückkommen – ist lediglich, dass bei Patienten die primäre Hör- rinde, wo die Signale von den Ohren zum ersten Mal in der Hirnrinde verarbeitet werden, aktiv ist, während bei gesunden Probanden, wenn sie sich Sprache vorstellen oder stumm spre- chen, dieselben Areale wie bei den Halluzinationen aktiv werden, aber nicht die primäre Hör- rinde. Nunmehr wird die Frage unausweichlich, wie die Signale, die im Gehirn entstehen, wenn etwas wahrgenommen wird, zu Wahrnehmungen werden. Gibt es irgendwo im Gehirn ein Konvergenzzentrum, wo alle Informationen zusammengeführt und interpretiert werden? Ist irgendwo im Gehirn ein Beobachter? Hier gibt es einen faszinierenden Konflikt zwischen Vor- stellungen, die unsere Intuition nahe legt, und dem, was die Neurobiologie zutage fördert. Ich denke, ich spreche in Ihrem Sinn, wenn ich sage, unsere Intuition und Introspektion legten nahe, dass es irgendwo in unserem Gehirn eine Instanz geben muss, die wir mit Ich umschrei- ben, die dafür verantwortlich ist, Sinnessignale zu interpretieren und wahrzunehmen und zu bewerten, die entscheidet und alles, was im Gehirn und Körper passiert, koordiniert und schließlich die Initiative ergreift, zu handeln. Weil wir das untrügliche Gefühl haben, es müsse irgendwo diese Instanz geben, durchzieht diese Vorstellung die abendländische Kultur- geschichte fast lückenlos. Die Stoiker, aber auch Vertreter fernöstlicher Philosophien, haben etwas andere Sichtweisen entwickelt. Auf den Punkt gebracht, hat die abendländische Be- trachtungsweise DESCARTES. Folgerichtig suchte er im Gehirn eine Struktur, die nur einmal vorkommt. Er schickte Studenten in Schlachthäuser, ließ sich Kuhhirne bringen und fand die Epiphyse – die gab es nur einmal. Was er nicht gesehen hat, war die Hypophyse – die gibt es auch nur einmal, aber die reißt ab, wenn man Gehirne nicht sorgfältig aus dem Schädel löst. Also schloss er, die Epiphyse sei der Ort, an dem alle Sinnessignale zusammenlaufen und in- terpretiert werden, und dies wäre dann auch der Ort, wo die res cogitans Ordnung in die Welt bringt. Ganz ähnlich haben Philosophen – vorher und nachher – und viele Weltinterpreten spekuliert. Die wissenschaftliche Sicht ist nun eine gänzlich andere, weit weniger intuitiv plausibel. Sie kommt zu dem Schluss, dass es im Gehirn diese übergeordnete Instanz nicht gibt, keinen Beobachter, keinen Beweger und keinen Entscheider. Für vieles, was der Epiphyse als Letztinstanz zugeschrieben wurde, ist die Großhirnrinde (Abb. 8) zuständig. Faszinierend an ihr ist ihre Gleichförmigkeit. Sie ist in allen Bereichen gleich aufgebaut, unabhängig davon, ob diese sich mit dem Sehen befassen, mit der Raumwahrnehmung, mit der Aufmerksamkeitssteuerung, mit dem Planen von Handlungen oder mit der Abspeicherung von moralischen Kategorien. Dieser Mantel der Hemisphären ist etwa 2–4 mm dick, hat 6 Schichten und ist voll gepackt mit Nervenzellen, die auf unvorstellbar komplexe Weise, aber nach einem stereotypen Bauplan, miteinander vernetzt sind. Der Evolution ist hier die Ent- wicklung einer Struktur gelungen, die offenbar eine sehr mächtige Funktion erfüllt, eine Struk- tur, die beliebig skaliert und ergänzt werden kann und die immer wieder neue Funktionen hervorbringt. Ihre Module können offenbar nahezu beliebig miteinander kombiniert werden, kommunizieren also über eine lingua franca, und können zur Verarbeitung unterschiedlicher Eingangssignale verwendet werden. Es muss ein sehr allgemeiner Algorithmus realisiert sein, der sich zur Bewältigung einer Vielfalt von Problemen der Informationsverarbeitung und Spei- cherung einsetzen lässt. In Abbildung 9 entspricht jeder der roten Punkte einem Areal der Hirnrinde, das Millionen, vielleicht Milliarden zellen enthält und ganz bestimmte Funktionen erfüllt. Hier ist nur das Sehsystem mit einigen exekutiven Strukturen dargestellt, also das System, das sich mit der Wer regiert im Kopf? – Philosophische Implikationen der Hirnforschung Nova Acta Leopoldina NF 110, Nr. 377, 325–352 (2011) 341