Nova Acta Leopoldina Band 110 Nummer 377

Verarbeitung visueller Signale befasst. Jede der weißen Linien steht für eine massive anato- mische Verbindung, für Millionen und Abermillionen von Fasern, die die Nervenzellen in ver- schiedenenArealen miteinander verkoppeln. Diese Netzwerkarchitektur liefert keinen Hinweis auf die Existenz eines Descartesschen Konvergenzzentrums. Man sieht ein Gewirr von Ver- bindungen, von denen die allermeisten reziprok sind und es erlauben, von jedem Areal zu jedem anderen ohne große Umwege zu gelangen. Untersucht man diese Netzwerke quantitativ, dann erkennt man, dass es sich um sogenannte „small world networks“ handelt. Das ist eine Bezeichnung für Netzwerke, die so ausgelegt sind, dass man mit einem Minimum an Umstei- gestellen und Faserverbindungen von jedem Punkt zu jedem anderen gelangen kann. Netz- werke ähnlicher Struktur sind z. B. die Flugroutennetze und das Internet, aber auch soziale Netzwerke. In letzteren gelangt man in der Regel über maximal 6 Knoten fast überall hin. Prüfen Sie, wie viele Menschen, die sich persönlich kennen, zwischen Ihnen und dem Papst oder zwischen Ihnen und einer beliebigen Person auf der Welt stehen. Es sind nicht viele. Die Großhirnrinde ist ähnlich dicht vernetzt und nach dem gleichen Prinzip der kürzesten Wege optimiert. Die Evolution hatte mehrere Optionen. Eine ist, alle benachbarten Zellen miteinan- der zu verbinden. Damit gelangt man von jedem Punkt zu jedem anderen, aber man muss sehr viel umsteigen. Eine andere Option ist, Zellen direkt miteinander zu verbinden. Dann aber be- nötigt man aberwitzig viele Verbindungen, und auf jede einzelne Zelle müssten sehr, sehr viele Fasern konvergieren. Dies ist kein gangbarer Weg, weil die Integrationskapazität der Zellen Nova Acta Leopoldina NF 110, Nr. 377, 325–352 (2011) Wolf Singer 342 Abb. 8 Großhirnrinde – Hirnrinden-Areale weisen eine sehr ähnliche interne Verschaltung auf, arbeiten folglich nach gleichen Prinzipien, aber wenden diese auf unterschiedliche Informationen an.