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Nova Acta Leopoldina Band 110 Nummer 377

1.   Einführung Lassen Sie mich meinen Vortrag mit einer Erinnerung an zwei bedeutende Ereignisse begin- nen: Heute ist der 3. Oktober, ein Tag, der nicht nur für diejenigen, die ihre wissenschaftliche Karriere im östlichen Teil Deutschlands begonnen haben, unvergesslich bleiben wird. Er mar- kiert das Ende einer Periode, wo Wissenschaftlern gleichsam „draußen vor der Tür“, streng abgeschirmt, der zugang zur internationalen Community verwehrt wurde. Das zweite Jahr, das hier Erwähnung finden soll und nun direkt zu meinem Thema überleitet, ist das Jahr 1995, das als solches bereits in die Wissenschaftsgeschichte eingegangen ist, ein Jahr, mit dem ein neues zeitalter der Wissenschaft, das der funktionellen Genomforschung er- öffnet wurde. Mit der Veröffentlichung der Genomsequenz des ersten lebenden Organismus, des Bakteriums Haemophilus influenzae, wurde erstmalig der vollständige Bauplan eines Le- bewesens entschlüsselt. Und nur sechs Jahre später, im Jahre 2001, wird der unendlich komple- xere Bauplan des Menschen vorgelegt, ein Ereignis, das seinerzeit auf einer Videokonferenz von Politikern weltweit stürmisch gefeiert wurde. Wenn bisher nur kleine Ausschnitte aus dem Leben von Organismen erforscht werden konnten, eröffnet sich mit der Vorlage des gesamten Bauplanes die Chance, Leben in seiner Vollständigkeit zu beschreiben und später zu begreifen. Es besteht überhaupt kein zweifel daran, dass die Wissenschaftler in den vergangenen 15 Jahren aus der vergleichenden Genomics ungemein wichtige, neue Erkenntnisse gewonnen haben, dennoch sind sich alle Experten darin einig: Mit der Vorlage der Genominformation ist lediglich der erste Schritt getan, ist erst der Bauplan des Lebens, noch nicht das Leben selbst beschrieben. Im nächsten Schritt geht es darum, diesen Bauplan des Lebens umzuschrei- ben in das reale Leben, aus der Bauzeichnung des Lebens das eigentliche Gebäude des Lebens zu erstellen, eine riesige Herausforderung, die die Lebenswissenschaften in den kommenden Jahrzehnten prägen wird. Lassen Sie mich mit einem kurzen Blick in die Geschichte beginnen. Mit einem wichtigen Experiment der Gebrüder BUCHNER im Jahre 1897 begann das zeitalter der experimentellen En- zymologie. Die Gebrüder BUCHNER versuchten, einen Hefeextrakt, der keine lebenden zellen mehr enthielt, mit Hilfe von Saccharose zu konservieren. Nach einiger zeit stellten sie fest, dass ein Teil der Saccharose in Ethanol umgewandelt wurde, und interpretierten diese Beobachtung völlig zu recht: Enzymreaktionen als die wichtigsten Lebensprozesse sind nicht an die Integrität der lebenden zelle gebunden, sondern wirken auch außerhalb des Lebens. Die sich unmittelbar daran anschließende erste Hälfte des 20. Jahrhunderts kann als zeitalter der Enzymologie ver- standen werden, damit verbunden war die Beschreibung der großen metabolischen Routen wie Glykolyse oder Tricarbonsäurezyklus. Das ATP, der für die zellen notwendige Energieträger, wurde in Berlin entdeckt, und bald konnte das Leben als Netzwerk von Enzymen in Form kom- plexer Stoffwechselwege verstanden werden, ein Netzwerk miteinander agierender Enzyme, die all die unterschiedlichen Metabolite der lebenden zelle in ihre metabolischen Bahnen lenken. In der Mitte des 20. Jahrhunderts rückten dann mehr und mehr die Strukturen, die diese Prozesse steuern, in den Mittelpunkt des Interesses. Nach der Aufklärung der räumlichen Struktur der DNA durch WATSON und CRICK setzten die „wilden 60er und 70er Jahre“ ein, das zeitalter der Molekularbiologie beginnt: Die älteste Sprache des Lebens, die Sprache der Gene und mit ihr der genetische Code, wurden aufgeklärt. Es wurde gezeigt, wie die Sprache der Gene über die Messenger-RNA- Moleküle in die der Proteine umgeschrieben werden kann. Die grundlegenden, neuen Erkenntnisse über das Leben wurden in der öffentlichkeit verfolgt und gefeiert, eine öf- fentliche Diskussion setzte ein, an der neben Naturwissenschaftlern und Medizinern auch Phi- Von der Proteomanalyse zur Systembiologie bakterieller Modellorganismen Nova Acta Leopoldina NF 110, Nr. 377, 143–165 (2011) 145