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Nova Acta Leopoldina Band 110 Nummer 377

3.   Topographische Modelle Es ist offenbar eine Eigenart des menschlichen Geistes, Ortszuweisungen vorzunehmen, um damit etwas zu erklären. Wenn man weiß, wo etwas ist, dann meint man bereits, es verstanden zu haben. Solche topographischen oder auch topologischen Modelle sind aus der Geschichte der Psychologie nicht wegzudenken, und sie haben auch heute ihre Bedeutung nicht verloren; ganz im Gegenteil bestimmen sie das Tagesgeschäft der empirischen Forschung, wenn bildgebende Verfahren zu Erklärung psychischer Prozesse eingesetzt werden.6 Man kann sich fragen, warum es diesen tiefen Glauben an die Erklärungskraft von Orten gibt, die jeweils etwas Bestimmtes repräsentieren. Vermuten kann man, dass unser evolutionäres Erbe uns hier einen Streich spielt, dass nämlich das Wissen des „wo etwas ist“ für das überleben notwendig war. Es besteht offenbar eine Sehnsucht, einzelne psychische Prozesse jeweils irgendwo im Gehirn zu verankern. Eine besondere Blüte entfaltete diese Denkweise vor etwa 200 Jahren, als in der sogenannten Phrenologie versucht wurde, einzelne Merkmale einer Person aus der besonderen Form des Schädels zu erschließen (PöPPEL 2006). Hier lag die Vermutung zugrunde, dass im dahinter lie- genden Gehirn bestimmte Eigenschaften mit neuronalen Strukturen korreliert seien, die zur Ver- wölbung des Schädels führen, und die man dann von außen ertasten kann. Diese elegante Methode der Persönlichkeitsdiagnostik mag heute verwunderlich erscheinen, wer aber läuft nicht in die Falle, jemandem ein hohes Maß an Geistigkeit bei einer hohen Stirn zuzuschrei- ben? Was in der Phrenologie eine besondere Rolle spielte, und was bis heute ein ungelöstes Pro- blem bleibt, ist die Frage, was eigentlich eine Funktion ist. Interessiert man sich für die Persön- lichkeit eines Menschen, dann ist man an komplexen Funktionen interessiert, und in der Tat war man der Meinung, dass Funktionen hoher Komplexität in umschriebenen Bereichen des Gehirns lokalisiert sind oder sein können. Befreit hat man sich von dieser Idee immer noch nicht, denn es ist eine der typischen Fragen, der man häufig auch unter Fachleuten begegnet, wo denn der Sitz des Bewusstseins, des Ichs, der Religiosität, des moralischen Verhaltens, der Empathiefä- higkeit oder einer Kaufentscheidung sei. Man kann sogar sagen, dass dies eine der zentralen Fragen überhaupt ist, die heute die Psychologie bewegt, verführt durch die Verfügbarkeit mo- derner Technologie, insbesondere der funktionellen Kernspintomographie (fMRT). Es ist nicht ungewöhnlich, sich bei dieser Form der „Neo-Phrenologie“ auf bestimmte Orte im Gehirn zu konzentrieren, um deren funktionelle Bedeutung aus den Daten zu extrahieren. Experimentell wird dann häufig, wenn auch nicht immer, so vorgegangen, dass die neuronale Aktivierung in zwei experimentellen Situationen miteinander durch Subtraktion der Aktivie- rungsmuster verglichen wird (GUTyRCHIK et al. 2010). Es ist nun statistisch und mathematisch einleuchtend, dass bei einer Subtraktion von Aktivierungsmustern dann, wenn die einzelnen Komponenten, die das Muster ausmachen, nicht von gleicher Intensität sind, immer ein Areal übrig bleiben muss, das die größte Differenz bei der Aktivierung hatte. Man ist dann versucht zu sagen, dass dieser Ort verantwortlich ist für eine bestimmte Funktion, und man hat damit vom raumzeitlichen Muster der neuronalenAktivierung abstrahiert, wobei aber möglicherweise das Muster als Ganzes für die Funktion verantwortlich war. zugrunde liegt häufig der recht banale Denkfehler, nicht zwischen „notwendig und hinreichend“ zu unterscheiden. Bestimmte Psychologie als eine auf Modelle angewiesene Angelegenheit ohne Taxonomie – eine Polemik Nova Acta Leopoldina NF 110, Nr. 377, 213–233 (2011) 219 6 CHEN 2005, FROST und PöPPEL 1976, PöPPEL 2005, PöPPEL und HARVEy 1973, SINGER et al. 1977, zEKI 1973, zHOU et al. 2010.