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Nova Acta Leopoldina Band 110 Nummer 377

8.   Das neuropsychologische oder Komplementaritätsmodell Bei der Suche nach einer Taxonomie, bei der Bestimmung eines möglichst guten Modells, das den Carnapschen Forderungen nahekommt, muss die erste Aufgabe sein, eine umfassende übersicht der psychischen Funktionen zu gewinnen. Alle genannten Modelle zeigen in ihrer jeweils spezifischen Perspektive immer nur eine Auswahl psychischer Phänomene. Der ge- wählte Rahmen lässt notwendigerweise manche psychischen Phänomene unberücksichtigt. Gibt es einen zugang, der robust ist gegenüber der gewählten Perspektive, wenn es um die Aufstellung eines umfassenden psychischen Repertoires geht? Dies scheint in der Tat mit dem neuropsychologischen Modell der Fall zu sein. Wie bereits bei der Erörterung des monistischen Modells im Rahmen der philosophischen Modelle erwähnt wurde, liefern Ausfälle des Gehirns gleichsam den Existenzbeweis von Funktionen. Wenn definierte Ausfälle, die lokaler oder prozessualer Natur sein können, mit interindividueller Konstanz zu jeweils entsprechenden Funktionseinbußen führen, so lässt sich daraus schließen, dass die Integrität eines neuronalen Areals oder eines neuronalen Prozesses normalerweise für die Verfügbarkeit der Funktion not- wendig ist. Die Funktion definiert sich selbst durch ihren Verlust. Der nächste Schritt ist dann nur noch, nach dem „darwinischen“ Verfahren die vorkommenden Ausfälle zu sammeln und zu ordnen, um das Repertoire des Psychischen umfassend zu bestimmen. Wenn man sich dieser übung unterzieht, dann kommt man zu folgendem Ergebnis: Inhalte des Psychischen, was also bewusst werden kann, lassen sich im Wesentlichen vier Klassen zuordnen, nämlich den Wahrnehmungen, den Erinnerungen, den Gefühlen und den Absichten (PöPPEL 1988, 1989). Hierbei ist eine Beobachtung hervorzuheben, dass für umschriebene Areale des Gehirns das Prinzip der Lokalisation von Funktionen gilt, aber nur in dem Sinne, dass deren Integrität notwendig aber nicht hinreichend für die Verfügbarkeit der Funktion auf der Ebene des bewussten Erlebens ist. Diese Funktionen repräsentieren aber nur einen Bereich; es kommt ein weiterer Bereich hinzu, ohne den Inhalte des Psychischen nicht möglich wären, und dies sind die logistischen Funktionen. Bei den logistischen Funktionen lassen sich wiederum Unterklassen unterschei- den, nämlich solche, die die Bedingung der Möglichkeit psychischer Inhalte sicherstellen, und solche, die Operationen mit den psychischen Inhalten ermöglichen. Welches sind diese Funk- tionen, die nicht selbst Inhalte des Psychischen sind, sondern erschlossen werden müssen, die aber notwendig dafür sind, dass wir überhaupt etwas im Bewusstsein haben, und dass wir die Inhalte des Bewusstseins dann auch operativ einsetzen können? Die erste Unterklasse ist gekennzeichnet durch die logistischen Funktionen der Aktivation, der Aufmerksamkeitssteuerung und der zeitlichen Organisation neuronaler Prozesse, die Grundlage allen psychischen Geschehens sind. Psychisches ist nur verfügbar, wenn eine hin- reichende Aktivation der verantwortlichen neuronalen Prozesse gegeben ist; ohne „Stromver- sorgung“ können Inhalte nicht bereitgestellt werden. Die tagesperiodische Modulation der Aktivation, dass wir also nachts schlafen, belegt ihre Bedeutung, wobei hierbei im Wesentli- chen Hirnstammfunktionen angesprochen werden. Eine weitere logistische Funktion ist die Aufmerksamkeit, die dafür sorgt, dass Inhalte ausgewählt werden können, um in das zentrum des Bewusstseins zu kommen (BAO und PöPPEL 2007). Ein Selektionsprozess sorgt dafür, von im Augenblick Unwichtigem abzusehen. Und schließlich müssen die neuronalen Prozesse zeitlich koordiniert werden, damit Bewusstseinsinhalte möglich werden. Hier sei besonders auf zwei zeitliche Prozesse hingewiesen, nämlich einen hochfrequenten Prozess mit einer Pe- riode von etwa 30 bis 40 ms, der für eine Komplexitätsreduktion in neuronalen Strukturen Nova Acta Leopoldina NF 110, Nr. 377, 213–233 (2011) Ernst Pöppel und Eva Ruhnau 228