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Nova Acta Leopoldina Band 110 Nummer 377

1.   Einleitung In der langen Geschichte der medizinischen Wissenschaften nimmt die Radiologie, die Füh- rungsdisziplin der bildbasierten Medizin, eine Sonderstellung ein. Sie ist noch relativ jung und hat ein exaktes Geburtsdatum mit der epochalen Entdeckung der Röntgenstrahlen durch Wilhelm Conrad RöNTGEN im November 1895. Während das Auge als Beobachtungsinstru- ment in vielen anderen Wissenschaften mittlerweile eine eher untergeordnete Rolle spielt, steht es in der Radiologie noch immer ganz im Vordergrund. 100 Jahre lang, von 1895 bis etwa 1995, erfolgte die Beurteilung radiologischer Information streng filmbasiert, und auch heute ist es noch üblich, von radiologischen Bildern anstatt Bilddaten oder Bildinformation zu spre- chen, was den qualitativ betrachtenden Charakter unterstreicht. Selbst wenn sich die Radio- logie mit der modernen CT- und MR-Bildgebung einer absoluten Hoch- und Spitzen- technologie bedient, ist die Auswertung der entstehenden, teilweise immensen Datenmengen doch noch weitgehend an die individuelle Erfahrung und das Wissen eines hochspezialisierten Experten gebunden und durch dessen Auge und Erkennungsvermögen geleitet. Schon deshalb darf man vermuten, dass die Ergebnisqualität radiologischer Arbeit eine erhebliche Streuung hat, nur schwer objektiv zu beurteilen ist und noch schwerer zu quantifizieren ist. 1.1 Mathematisierung als Gradmesser von Wissenschaftlichkeit? Die Geschichte der Radiologie lässt sich noch von einer weiteren Seite betrachten. Während nahezu alle naturnahen wissenschaftlichen Disziplinen in ihrer historischen Entwicklung kon- sequent den Weg immer raffinierterer quantitativer Messverfahren sowie einer akribischen Verfeinerung ihrer spezifischen Informationsquellen gegangen sind, hat die Radiologie diesen Weg gerade erst begonnen. So ist auch zu verstehen, dass eine Modellbildung im naturwis- senschaftlichen Sinn in der Tätigkeit des Radiologen praktisch nicht vorkommt, während Quantifizierung, Fehlerbeurteilung und Modellierung der zugrundeliegenden Mechanismen die selbstverständlichen, eng verzahnten und sich wechselseitig beflügelnden Methoden der Naturwissenschaft seit GALILEI wurden. Der Vater des modernen mathematisch-naturwissenschaftlichen Weltbilds verschafft uns ungewollt tiefe Einblicke in die Besonderheit der Radiologie in der Moderne (GALILEI 1623): „Philosophie ist geschrieben in diesem großem Buch, ich meine das Universum. Man kann es nicht lesen, ohne seine Sprache zu verstehen. Es ist geschrieben in der Sprache der Mathema- tik, und seine Buchstaben sind Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren. Ohne diese kann man nicht ein einziges Wort verstehen. Ohne diese irrt man umher wie in einem dunklen Labyrinth.“ Und KANT geht noch weiter. Für ihn ist die Mathematisierung geradezu der Grad- messer der Wissenschaftlichkeit schlechthin (KANT 1786): „Eine reine Naturlehre über be- stimmte Naturdinge (Körperlehre und Seelenlehre) ist nur mittels der Mathematik möglich, und da in jeder Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen wird, als sich darin Erkenntnis a priori befindet, so wird Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft enthalten, als Mathematik in ihr angewandt werden kann.“ Während die Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts diesem Anspruch kaum gewachsen waren, wenn man von Physik und As - tronomie absieht, hat die umfassende Computerisierung aller Wissenschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Mathematisierung weit vorangetrieben und ist heute gleichsam Motor und Getriebe zwischen den Knotenpunkten Messung, Quantifizierung, Modellbildung und Vorhersage. zusammengefasst lässt sich also sagen: Die Mathematisierung der modernen Modellbildung in der bildbasierten Medizin: Radiologie jenseits des Auges Nova Acta Leopoldina NF 110, Nr. 377, 259–283 (2011) 261