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Nova Acta Leopoldina Band 110 Nummer 377

Naturwissenschaften ist die Grundlage für die Vergleichbarkeit von Aussagen samt Feststel- lung und Prüfung ihrer Validität, für Vorhersagen samt Beurteilung ihrer Qualität und nicht zuletzt für die inner- und interdisziplinäre Kommunikation. Gemessen an diesen Maßstäben nimmt die geringe Mathematisierung in der Radiologie eine bemerkenswerte Sonderstellung ein und man darf gespannt sein, wie die Radiologie ihre Rolle jenseits des Auges entdecken und entwickeln wird und welche bisher verborgenen Erkenntnisse und Anwendungsmöglich- keiten dadurch zu Tage treten. Ein kurzer Blick auf die Geschichte der Radiologie hilft uns, diesen Aspekt zu präzisieren. Es ist kaum bekannt und umso erstaunlicher wahrzunehmen, dass schon im Jahr nach RöNT- GENS Entdeckung 1896 die neue Durchleuchtung praktisch alle wesentlichen Organe aus dem Körperdunkel hervorgezaubert hatte und die medizinische Diagnostik unvorstellbar bereicherte oder sogar erst ermöglichte. Der Siegeszug und die Entwicklung der radiologischen Methoden sind in den ersten Jahrzehnten bis etwa 1940 durch heroische Personen markiert, denen die schädliche Wirkung der Röntgenstrahlung noch unbekannt war. Später, in den 1970er und 1980er Jahren nimmt die radiologische Entwicklung auf der Geräteseite durch die Computer- tomographie (CT) und Magnetresonanztomographie (MR) weiter rasante Fahrt auf und erlaubt die Grenzüberschreitung von der morphologischen zur funktionellen Bildgebung. So lässt sich heute das schlagende Herz im CT sehen und die Diffusion von Wasser in Nervenfasern des Gehirns im MR abbilden, oder die Sauerstoffanreicherung in Tumoren darstellen. Und natür- lich liegen diesen Methoden der Bilderzeugung raffinierteste Methoden der Messung, Quan- tifizierung und Modellierung und ein wahrhaft gigantischer mathematischer Apparat und Aufwand zugrunde. Aber in der eigentlichen Beurteilung steht nach wie vor das Auge des Ra- diologen im Mittelpunkt. 1.2 Digitalisierung schafft Voraussetzung für Mathematisierung Erst durch die vollständige Digitalisierung der Bildinformation ab Mitte der 1990er Jahre erhält die Auswertung radiologischer Bilder Anschluss an die modernen Naturwissenschaften. Eine neue Disziplin – Medical Image Computing – entsteht, die sich seither darauf konzentriert hat, für den Radiologen die Bildinformation zu bearbeiten und für spezielle Anwendungen aufzu- bereiten. Stichworte wie Image Enhancement, Computer Aided Detection & Diagnosis (CAD) und Medical Visualization beschreiben den Weg der letzten Jahre. Allerdings ist die Gemein- schaft der Radiologen scheinbar mehrheitlich noch immer der Gerätetechnik zugewandt und erkennt erst langsam, welche vielversprechende, umwälzende und strategische öffnung Medi- cal Image Computing für die Radiologie bedeuten wird. Die neue Disziplin ist zudem Motor einer längst überfälligen und besseren Nutzung der diagnostischen Bildinformation im klini- schen Planungs- und Steuerungsprozess für nahezu alle komplexen Therapien. Doch bei der Anwendung des bisher verfügbaren Methodenschatzes des Medical Image Computing steht überwiegend noch das Auge als erste und letzte beurteilende Instanz im Vordergrund. Was also ist für die Radiologie jenseits des Auges zu erwarten? Ein umfassender und weit- reichender radiologischer Paradigmenwechsel kündigt sich an und adressiert eine weitere Kernfrage: Welche Wirkung hat die unvermeidbare Unvollständigkeit und Fehlerbehaftung von Information auf eine bestimmte Diagnose und Prognose? Offenbar ist radiologische Bild- information nur ein Schnappschuss einer komplexen anatomisch-pathologischen Wirklichkeit, die der Radiologe bisher in begrenzter Reichweite durch Erfahrungswissen ergänzt, um eine zustandsbeschreibung und Prognose abzugeben. Mit anderen Worten, unvollkommene Infor- Nova Acta Leopoldina NF 110, Nr. 377, 259–283 (2011) Heinz-Otto Peitgen, Horst Hahn und Tobias Preusser 262