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Nova Acta Leopoldina Band 110 Nummer 377

Aber dass Köpfe generell besser rechnen können als Computer, wäre aberwitzig zu behaupten. Eine gute Intuition kann mit Disziplin und Geduld immer auch in die Sprache der Mathematik übersetzt werden. Sie legt dem Denken ein Korsett an, indem sie logische Sprünge entlarvt, aber nur der schlechte Mathematiker lässt sich seine Intuition schmälern, wenn er seine Ge- danken in die Sprache der Mathematik übersetzt. Und ein zweites Caveat: Ohne Glaubensgrundsätze geht es in der praktischen Anwendung nicht, denn oft genug wird man im praktischen Leben dazu gezwungen, Entscheidungen zu fällen, ohne dass man die Situation bis auf den Grund verstanden hat. Dies gilt auch für An- wendungen, die den Natur- und Lebenswissenschaften entspringen, mag aber in den Wirt- schaftswissenschaften besonders offensichtlich sind: Lehman Brothers, Opel, Arcandor, es geht um Entscheidungen unter großer Unsicherheit und großem zeitdruck. Die Medizin kennt das genauso. Auch in den großen weltbewegenden Anwendungen der Natur- und Lebenswis- senschaften – Kernkraft, genetisch modifizierte Pflanzen und Tiere – sind wir weit davon ent- fernt, alles zu wissen und alles zu verstehen. A priori formulierte Glaubensgrundsätze strukturieren den Entscheidungsprozess, sind, so hoffen wir, aus Lebenserfahrungen und Dis- kursen über ethische Prinzipien erwachsen, und haben so ihre Berechtigung, ja tiefe Notwen- digkeit. Aber sie haben nichts mit Wissenschaft zu tun. Wenn man im praktischen Leben Entscheidungen fällen muss, ohne dass man die Situation bis auf den Grund verstanden hat, müssen sich die Wege von Anwendung und Wissenschaft trennen. Die Wissenschaftler müssen sich zeit nehmen, die Anwender müssen im Glauben springen, dass sie das andere Ufer errei- chen. Beides hat seine Berechtigung. Die Modelle in der ökonomie sind nicht nur hilfreich, sie sind unabdingbar. Natürlich ist es korrekt, dass viele logisch richtige Modelle inhaltsleer oder schlicht irreführend sind, weil sie essentielle Annahmen der Lebenswirklichkeit ignorieren. Natürlich ist gesunde Skepsis und eine immerwährende Rückkopplung mit der Evidenz ebenso unverzichtbar, und daran mangelt es oft in der modernen Volkswirtschaftslehre. Schließlich muss man in der Anwen- dung wissen, wo die Grenzen eines Modells liegen bzw. welches Modell für welche Situation angemessen ist – wieder nicht unähnlich der Physik, wo man das Licht einmal als Welle und ein anderes Mal als Photon beschreibt. Das Neue findet sich in den Modellen, indem sie solche Effekte transparent machen, die eben nicht in trivialer Weise aus den Annahmen abgeleitet werden können, weil die Modelle hinreichend komplex sind und sich gerade deswegen – zu- mindest zunächst einmal – der oberflächlichen Intuition entziehen. Ein gutes Beispiel ist die Wirkung des Mindestlohns. Gute „Neoliberale“ glauben zutiefst an dessen Schädlichkeit auch für die wenig Qualifizierten, gute „Linke“ sind ebenso tief von der Nützlichkeit für die Benachteiligten überzeugt. Beide Standpunkte sind wissenschaftlich unhaltbar. Ein gutes Modell zeigt, unter welchen Umständen und impliziten Annahmen die eine bzw. die andere Seite Recht hat. Volkswirtschaftliche Intuition ist besonders trügerisch. Die halbe Welt – ich fürchte, noch mehr – glaubt, dass es den Jungen hilft, wenn die älteren ihnen ihreArbeitsplätze freimachen. Stammtischweisheiten wie diese haben enormes Gewicht, und sei es nur deswegen, weil sie sich politisch gut ausnutzen lassen. Makroökonomische Mo- delle zeigen, unter welchen Voraussetzungen diese Stammtischweisheiten stimmen, aber auch, unter wie vielen Umständen – wie in diesem Beispiel – die gängige Stammtischweisheit schlichtweg falsch ist. ökonomie ist eben doch etwas komplexer und schwieriger, als es die Intuition vorgaukeln mag. Die Aufdeckung der Umstände und der oft versteckten Annahmen durch die Härte und Transparenz der Mathematik ist von großem Nutzen für alle Stadien der Forschung: in der Nova Acta Leopoldina NF 110, Nr. 377, 285–301 (2011) Axel Börsch-Supan 292