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Nova Acta Leopoldina Band 110 Nummer 377

5.   Die erkenntnistechnische Rolle computergenerierter Simulationen Experiment und (mathematisierbare) Theorie bilden etablierte Tätigkeitsformen von Wissen- schaften im Sinne der ‚sciences‘. Computergenerierte Simulationen nun verkörpern ein neues Verfahren, das nicht einfach neben Experiment und Theorie tritt, sondern eine neuartige Ver- mittlung zwischen beiden darstellt. Wissenschaften, die numerische Simulationen in bemer- kenswertem Umfang einsetzen, bekommen ein neues Gesicht und nehmen züge von ‚Computational Sciences‘ an – wenn sie sich nicht gar in solche verwandeln. Die neuartige Physiognomie ist selbstverständlich nicht auf die Rolle von Simulationen – eingesetzt als For- schungsinstrumente – reduzierbar, sondern ist auch geprägt von der „weltweiten Vernetzung von Infrastrukturen und der flächendeckenden Vermessung der Welt durch computerchip- gesteuerte Detektoren.34 Gleichwohl bildet die computergenerierte Simulation den Kern jener methodologischen Neuerungen, deren zeuge wir gegenwärtig werden. Um uns über die Spezifik numerischer Simulationen klar zu werden, können wir die Frage stellen: Warum ist der Einsatz solcher Art von Simulationen notwendig? Worin besteht das Problem, das mit der Computersimulation eine (relative) Lösung erfährt? Im mechanischen Weltbild, das in NEWTONS Physik seine wesentliche Stütze fand, ent- sprechen kleinen Ursachen auch kleine Wirkungen und umgekehrt. Das bedeutet: jeder zu- stand eines Systems ist aus seinem vorhergehenden – im Prinzip – berechenbar. Die Mathematik NEWTONS und LEIBNIzENS entwickelte mit den Differentialgleichungen ein ma- thematisches Werkzeug, das es erlaubte, Einzelfälle unter allgemeine Gesetzmäßigkeiten zu subsumieren. Wenn nun allgemeine Gesetze in der Form analytischer Funktionen hingeschrie- ben werden, so dass die Dynamik eines Systems die Gestalt eines funktionalen zusammen- hanges zwischen Variablen annimmt, dann können diese Variablen durch konkrete zahlenwerte ersetzt werden und zukünftige zustände von Systemen, – deren Verhaltensweisen mit Diffe- rentialgleichungen beschreibbar sind – lückenlos, also für jeden beliebigen zeit- und Raum- punkt, analytisch berechnet werden.35 Das Beispiel für solche linearen, determinierten Vorgänge ist die Bewegung eines einzelnen Körpers in einem Gravitationsfeld: Ob die Bahn eines Planeten oder die Kurve einer Kanonenkugel: im Prinzip ist deren Verlauf mit Hilfe von Bewegungsgleichungen bei Kenntnis konkreter Anfangswerte vorhersagbar. Der französische Mathematiker und Astronom Piere-Simon DE LAPLACE drückte 1814 die mit der Idee der ana- lytischen Lösbarkeit aller Bewegungsvorgänge verbundene Vision einer deterministischen Mechanik und einer universellen Erkennbarkeit der Welt so aus: Eine Intelligenz, welche für einen bestimmten zeitpunkt alle wirkenden Kräfte der Natur kennt und die Lage aller Wesen überblicken könnte, der würde die zukunft der Welt offen vor Augen liegen.36 Doch der Traum einer allwissenden Intelligenz wurde schon 1891 zu Grabe getragen. Der französische Mathematiker Henri POINCARé konnte im Rahmen einer Preisfrage des schwe- dischen Königs bezüglich der Stabilität unseres Sonnensystems demonstrieren, dass wenn auch nur drei Körper verschiedener Massen ein gegenseitiges Gravitationsfeld bilden, das Verhalten dieser Körper nicht mehr mithilfe linearer Verknüpfungen von Variablen vorher- sagbar ist. Denn es zeigt sich dabei, dass schon sehr „kleine Ursachen in den Anfangsbedin- Simulation und Erkenntnis. Über die Rolle computergenerierter Simulationen in den Wissenschaften Nova Acta Leopoldina NF 110, Nr. 377, 303–322 (2011) 315 34 GRAMELSBERGER 2010, S. 96. 35 KüPPERS und LENHARD 2005, S. 310ff. 36 LAPLACE 1832, Einleitung; zitiert in GRAMELSBERGER 2010, S. 33.