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Nova Acta Leopoldina Band 110 Nummer 377

Zusammenfassung Fortschritte in den kognitiven Neurowissenschaften befördern Erkenntnisse, die auch für die Humanwissenschaften bedeutsam sind. Manche von ihnen verdienen besondere Aufmerksamkeit, weil sie mit unserer Selbstwahrnehmung nur schwer vereinbar sind. So ist uns, als verfügten wir in unserem Gehirn über eine Kontrollinstanz, die über alle Sinnesinformationen gleichermaßen verfügt, aus diesen einheitliche Interpretationen der umgebenden Welt erstellt, Entscheidungen fällt und Handlungsabläufe festlegt. Neurobiologische Erkenntnisse über die Organisation höherer Hirnfunktionen geben keinen Hinweis auf die Existenz einer solchen Kontrollinstanz, sondern lassen vielmehr ver- muten, dass die Verarbeitungsprozesse im Gehirn in hohem Maße distributiv und parallel erfolgen. Wie diese zahl- reichen verteilten Funktionen gebunden werden, um kohärente Wahrnehmungen und Handlungsentwürfe zu ermöglichen, ist eine der zentralen Fragen, mit denen sich die Suche nach dem neuronalen Substrat höherer kognitiver Leistungen auseinandersetzen muss. Eine schwer zu überwindende Diskrepanz besteht ferner zwischen unserer Selbst- wahrnehmung, in der wir uns als freie, selbstbestimmte Agenten erfahren, und dem neurobiologischen Dogma, dass selbst die höchsten kognitiven Leistungen auf neuronalen Prozessen beruhen, die den bekannten Naturgesetzen ge- horchen. Hypothesen über die Gründe für Diskrepanzen sind erst im Ansatz sichtbar. zu bedenken wird sein, dass unsere kognitiven Fähigkeiten Folge evolutionärer Anpassung sind und damit notwendig begrenzt. Unsere Wahrnehmungen der Welt beruhen auf Interpretationen, die sich ihrerseits auf einen profunden Schatz von Vorwissen stützen. Alles Wissen, über das ein Gehirn verfügt, und die Programme, nach denen dieses Wissen ange- wandt wird, sind in seiner funktionellen Architektur gespeichert. Damit reduziert sich die Frage nach der Herkunft von Wissen auf die Frage, welche Faktoren bestimmen, wie Nervenzellen miteinander verschaltet sind, ob sie erregend oder hemmend miteinander in Wechselwirkung stehen und wie stark die jeweiligen Wechselwirkungen sind. Bestim- mend für die Auslegung dieser funktionellen Architektur sind die Evolution, erfahrungsabhängige Prägungsprozesse während der Hirnentwicklung und schließlich die Lernprozesse, die das Leben begleiten. Somit kann die Evolution als kognitiver Prozess verstanden werden. Durch evolutionäre Anpassung an die mesoskopische Welt, in der sich Leben entwickelt hat, bildeten sich Hirnstrukturen heraus, in denen Wissen über die Bedingungen dieser Welt ge- speichert ist. Dieses Wissen wird über die Gene von Generation zu Generation weitergegeben und bestimmt in hohem Maße, wie wir wahrnehmen und handeln. Abstract Advances in cognitive neurosciences provide insights that are also relevant for the humanities. Some of them deserve particular attention because they are difficult to reconcile with our intuition about the constitution of the self. It appears to us as if we had a supraordinate center in our brain that is aware of all the sensory information provided by our sense organs, uses this information for the interpretation of conditions in the outer world, reaches decisions and plans future actions. Neurobiological findings about the organization of our brains contradict this view because they are unable to identify such a supraordinate center. Rather, evidence suggests that the brain is organized as a highly dis- tributed system in which a large number of processes occur simultaneously and in an interactive way. How these many distributed functions are coordinated and bound together so that they give rise to coherent perceptions, decisions and actions is one of the major challenges of contemporary neuroscience. Another conflict arises from our intuition that we experience ourselves as agents who are free to decide at will. However, neurobiological evidence indicates that even the highest mental functions that we equate with functions of the mind are the consequence and not the cause of neuronal processes. Since the latter follow the laws of nature, this implies that decisions about what to do next are prepared by preceding neuronal processes that respect the principles of causality. One reason for these dis- crepancies is that our cognitive functions are the result of evolutionary adaptation of our brains and thus limited. Our perception of the world and of ourselves is based on interpretations that are derived from a wealth of a priori knowledge. This knowledge is stored in the functional architecture of our brains which in turn is specified by the genes, by post natal experience and life long learning. Through this evolutionary and ontogenetic adaptation to the small sector of the world in which life has evolved, brain architectures have been specified which contain the knowl- edge and the computational programs for the use of this knowledge. These are the conditions that determine how we perceive, assign values, decide and act. Nova Acta Leopoldina NF 110, Nr. 377, 325–352 (2011) Wolf Singer 326