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Nova Acta Leopoldina Band 110 Nummer 377

jetzt bekannten Universums. Leben hat sich in einer Dimension entwickelt, die sich von Mi- krometern – wie Bakterien – bis zu einigen Metern erstreckt. Das ist der Ausschnitt der Welt, der für das überleben relevant ist. In diesem Segment sind ganz bestimmte Qualitäten und Gesetzmäßigkeiten prävalent. Es gibt solide Objekte und abgegrenzte Gegenstände. In der Quantenwelt herrschen gänzlich andere Bedingungen. In „unserer“ Welt, an die wir uns an- gepasst haben, ist es sinnvoll, die Kategorien von Raum und zeit zu trennen. Eine Trennung, die sich auf kosmische Prozesse nicht übertragen lässt. Offenbar haben sich die kognitiven Leistungen unserer Gehirne an das enge Spektrum der Lebenswelt angepasst, und vermutlich sind wir deshalb unfähig, uns vorzustellen, wie es in den anderen Bereichen der Welt zugeht. Wir können zwar durch Extrapolation gewisse Rückschlüsse ziehen, indem wir mathemati- sche Verfahren anwenden, aber wir erkennen immer wieder, dass diese Extrapolationen an Grenzen stoßen. Die Physik erfährt das sehr schmerzlich zurzeit bei dem Versuch, sich dem Urknall – wenn er sich denn je ereignet haben sollte – zu nähern, aber schon jetzt zu wissen, dass es ein darüber hinaus nicht geben wird. Und ähnlich zerfließt die zuversicht, im Kleinen immer weiter vordringen zu können – schon jetzt gibt es im Bereich der Quantenphysik Wi- dersprüchlichkeiten, die sich gegenwärtig zumindest, auch durch kräftiges Nachdenken nicht auflösen lassen. zudem sind die Aussagen selbst schlüssiger Theorien intuitiv meist nicht mehr nachvollziehbar. Das alles weist darauf hin, dass wir kognitive Leistungen entwickelt haben, die nur für die Erfassung der Variablen ausgelegt sind, die Bedeutung für das überle- ben haben. Diese Variablen sind nicht notwendig dieselben wie die, die bewertet werden müssten, um absolute Wahrheiten im Kantschen Sinne, von der Welt an sich, erfassen zu kön- nen. Deshalb sollte man skeptisch sein gegenüber allen Aussagen, die Absolutheit beanspru- chen. Wissenschaftliche Aussagen sind jeweils nur innerhalb abgesteckter, genau definierter Bereiche gültig, auch dann, wenn sie sich experimentell verifizieren lassen. Denn selbst diese Verifizierung erfolgt in einem engen Raum von Vorschriften und erfordert Verabredungen. Gültigkeit kann nur innerhalb definierter Grenzen beansprucht werden, und seit GöDEL wissen wir, dass selbst die eherne Mathematik, von der man am meisten erwarten würde, dass sie allgemeine Gültigkeit besitzt und dies lückenlos beweisen kann, diesem Anspruch nicht ge- recht wird. Es kann also sein, dass die Art, wie wir logisch schlussfolgern, Ursachen und Wir- kungen miteinander verknüpfen, ein Spezialfall ist, der in der Welt, in der wir uns entwickelt haben, gute Dienste erweist, aber nur begrenzt verallgemeinerbar ist. Diese überlegungen erlauben es, alles das, was ich im Folgenden ausführen werde, auszuhebeln – was zu tun wir geneigt sind, wenn es unserem Selbstverständnis nicht entspricht oder zu narzisstischen Ver- letzungen führen würde. Die Hirnforschung hat sich in den letzten Jahrzehnten durch die Erforschung sehr hoher kognitiver Leistungen immer mehr Bereichen angenähert, die traditionell von den Human- und Geisteswissenschaften besetzt worden sind. Wir begegnen immer wieder Fragen, die ei- gentlich klassische Probleme der Philosophie sind. Wir treten deshalb immer häufiger mit Phi- losophen in Dialoge, und diese sind nicht immer konfliktfrei. Was die Neurobiologie zutage fördert, steht gelegentlich im Widerspruch zu dem, was Intuition, Selbstreflexion und Beob- achtung des anderen bislang vorgeschlagen haben. So müssen wir uns z. B. mit unseren Kollegen in der Philosophie über erkenntnistheore- tische Probleme auseinandersetzen. Denn wer über ein System arbeitet, das für die Wahrneh- mung verantwortlich ist, muss sich natürlich der Frage stellen, wie objektiv und verlässlich die Wahrnehmungen sind, die unser Gehirn vermittelt. Sind Wahrnehmungen lediglich Kon- strukte unseres Gehirns, wie viel haben sie mit der Wirklichkeit zu tun, favorisiert die Hirn- Wer regiert im Kopf? – Philosophische Implikationen der Hirnforschung Nova Acta Leopoldina NF 110, Nr. 377, 325–352 (2011) 329