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Nova Acta Leopoldina Band 110 Nummer 377

forschung phänomenologische, konstruktivistische oder naturalistische Positionen? Diese Fra- gen diskutieren wir zurzeit. Dann müssen wir uns dem Leib-Seele-Problem stellen, denn solange unsere Sprache zwi- schen Leib und Seele oder Materiellem und Geistigem unterscheidet, Unterscheidungen, die sich der kulturellen Evolution verdanken, liegt die Beweislast bei der Neurobiologie, erklären zu müssen, wie Geistiges aus Materiellem hervorgehen kann. über die kulturelle Evolution kamen Phänomene in die Welt, sogenannte soziale Realitäten, für die Namen gefunden wur- den. Diese immateriellen Realitäten umfassen Wertesysteme, moralische Vorstellungen, Glau- bensinhalte und vieles mehr, das nicht mit den fünf Sinnen erfasst werden kann, aber dennoch seine Repräsentanz im Gehirn haben muss. Dieses Problem treibt uns um und führt zu Aus- einandersetzungen mit der Philosophie. Das gleiche gilt für die Konstitution des Ichs, des Selbst, des autonomen Agenten, den wir als Dirigenten in unserem Gehirn vermuten. Eine eherne Auffassung abendländischer Geistestradition ist, dass es irgendwo in uns eine zentral- instanz geben muss, die alle Entscheidungen trifft, Handlungen initiiert und dann zur Verant- wortung gezogen wird, wenn sie sich falsch entscheidet. Die Frage ist, was die Neurobiologie dazu sagt, wie sie glaubt, dass sich dieses Ich in einem Gehirn konstituiert? Und dies wiederum ist eng mit der Frage nach der Freiheit unseres Willens, der Freiheit unserer Entscheidungs- fähigkeit verbunden. Ich will darauf hier nicht explizit eingehen. Die Schlussfolgerungen er- geben sich aus den Fakten, die ich vorstellen werde. Wichtige erkenntnistheoretisch relevante Aspekte sind ferner mit der Frage verbunden, woher ein Gehirn eigentlich weiß, dass es ein Ergebnis erzielt hat, wenn es nachdenkt, wenn es irgendwas ausrechnet oder eine Quizfrage zu lösen versucht, und wie es erkennt, wann es mit der Bearbeitung eines Problems fertig ist? Wir wissen alle, dass wir das können. Wir wissen, dass wir, wenn wir vor einem Problem stehen, irgendwann einmal das Gefühl haben, ja – jetzt habe ich es gelöst, und man weiß meist sogar, wie wahrscheinlich oder wie sicher die gefundene Lösung ist. Man spürt, dass man dem Problem näher gekommen ist, aber dass die Lösung vermutlich noch nicht die richtige ist. Es muss also im Gehirn Systeme geben, die in der Lage sind, die Aktivität von Millionen und Abermillionen von Nervenzellen – und dieses ist das Korrelat von Gedanken, von Entschei- dungen und von Lösungen – daraufhin zu untersuchen, ob die Aktivitätsmuster vom Suchvor- gang herrühren oder schon eine Lösung darstellen. Noch haben wir keine Antworten auf diese Frage. Deutlich wird jedoch, dass wir es mit einem selbstreferentiellen System zutun haben, das offenbar aufgrund interner Bewertungssysteme in der Lage ist, für sich selbst zu entschei- den, was eine Lösung darstellt. Das muss so sein, denn wenn das System lernen soll, dann darf es natürlich nur in solchen Phasen lernen, in denen konsistente Ergebnisse vorliegen – Wahr- nehmungsergebnisse oder Handlungsergebnisse. Die hier angesprochenen Probleme verdeutlichen einige der Fragestellungen, die uns zur- zeit umtreiben. Und diese sind eng verbunden mit der Frage nach der Validität unseres Ur- teilsvermögens. Dies lässt sich im Bereich der Wahrnehmung sehr schön illustrieren. Hier stellt sich immer wieder die Frage, nehmen wir wahr, was tatsächlich ist, oder sind es wir, die festlegen, was der Fall ist? Sind wir Konstruktivisten? Aus den nun folgenden Beispielen wird deutlich, dass wir unsere Wahrnehmung rekonstruieren und nicht einfach abbilden, was unsere Sinnesorgane vermitteln. Hier einige Beispiele. Aufgrund von Mechanismen in der Netzhaut des Auges, die kontrastverstärkend wirken, kommt es dazu, dass je nachdem, wohin der Ort des schärfsten Sehens gerichtet ist, die zwi- schenräume in diesem Gittermuster entweder als schwarze oder weiße Punkte wahrgenommen werden (Abb. 1). Es wird etwas wahrgenommen, was in Wirklichkeit nicht vorhanden ist. Nova Acta Leopoldina NF 110, Nr. 377, 325–352 (2011) Wolf Singer 330