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Nova Acta Leopoldina Band 110 Nummer 377

vorausgehen müssen und nicht umgekehrt, verankert. Was also die Schnecke über das Verhältnis von Ursache und Wirkung gelernt hat, wurde in den Genen verankert und bestimmt auch heute noch unser Verhalten. Konserviert wurden entsprechend auch die Eigenschaften von Nervenzel- len und die Mechanismen, über welche sie miteinander kommunizieren. Die Art und Weise, wie Nervenzellen in der Großhirnrinde von Menschen miteinander wechselwirken, die chemischen Substanzen, die sie verwenden, und die Erregbarkeitsmechanismen sind dieselben, wie in der Schnecke. Diese Erkenntnis entkräftet das ad nauseam wiederholte Argument, Ergebnisse von Tierexperimenten seien auf den Menschen nicht übertragbar. Fast alles, was wir über die Funk- tionen unseres Organismus wissen, ist in Untersuchungen an Tiermodellen erarbeitet worden und lässt sich eins zu eins übertragen. Die sehr wirksamen Antiepileptika, die wir heute anwen- den, sind in Tierversuchen entdeckt und validiert worden. Dies ist eines von unendlich vielen Beispielen – weshalb es mich immer unwillig macht, wenn ich lese, dass sogar ärzte behaupten, dass Erkenntnisse aus Tierversuchen nicht auf den Menschen übertragbar seien. Ein weiterer Beleg für die Kontinuität der Evolution ist die sehr konservative strukturelle Entwicklung von Gehirnen. Hier fasziniert, dass sich seit der Entwicklung der Großhirnrinde, deren Organisationsprinzipien sich auf dem Weg von den einfachen zu den höher entwickelten Vertebraten ausbildeten, keine neuen Strukturen mehr entwickelt haben. Es gibt nur mehr vom Gleichen. Das menschliche Gehirn unterscheidet sich von dem unserer nächsten Nachbarn, den Menschenaffen, nur durch das Hinzufügen von vielleicht einem Dutzend Arealen der Großhirnrinde, die auf ganz besondere Weise mit den bereits vorhandenen verschaltet sind. Mitgewachsen sind nur jene Strukturen, die die Großhirnrinde benötigt, um zu funktionieren. Das Hinzufügen von Substrat, das ganz bestimmte Rechenoperationen ausführen kann – und noch wissen wir nur im Ansatz, welche das sind – hat offenbar ausgereicht, um kognitive Leis- tungen in die Welt zu bringen, die es uns Menschen erlaubten, der biologischen Evolution eine kulturelle hinzuzufügen. Entsprechend haben wir vieles mit den anderen Primaten und Wirbeltieren gemein. Sie nehmen auf die gleiche Weise wahr wie wir, verfügen über Mecha- nismen zur Steuerung von Aufmerksamkeit und haben Bewusstsein. Aber was Primaten z. B. nicht können, ist, ihr erworbenes Wissen intentional weiterzugeben. Schimpansen erziehen nicht. Sie machen vor, aber sie sorgen nicht dafür, dem Kleinen die Hand zu führen, wenn es eine Nuss knacken will. Sie haben ferner eine sehr eingeschränkte Theorie des Geistes, können sich also wenig vorstellen, was in dem anderen vorgeht, wenn dieser sich in einer bestimmten Situation befindet und nicht über Gesten oder Laute kundtut, wie er sich fühlt. Auch haben sie keine differenzierte Sprache entwickelt, weil sie nicht hinreichend gut abstrahieren und symbolisch kodieren können. Aufgrund des Hinzukommens von Hirnrindenregionen, die mit vielen anderen eng verbunden sind, können wir Sinnessignale aus verschiedenen Systemen weit besser vergleichen und deshalb in scheinbar Unterschiedlichem das Gemeinsame entde- cken. Dies ist eine der Grundlagen für symbolische Kodierung, für Abstraktion. Wenn Tiere einen zusammenhang visuell erfassen, fällt es ihnen sehr schwer, die gleichen Bezüge z. B. in taktilen Signalen zu erkennen. zusammen mit noch einigen anderen Attributen haben uns diese kognitiven Fähigkeiten in die Lage versetzt, die Spirale in Gang zu bringen, die zur kul- turellen Evolution führte. Menschen bildeten zunehmend komplexe soziokulturelle Umwelten, in die Kinder mit extrem prägbaren, sich langsam entwickelnden Gehirnen hinein geboren wurden. über intentionale Erziehung und Prägung konnten sich diese dann weiter differen- zieren und ihrerseits noch komplexere Umwelten erzeugen usw. Ob und wie sich dieser Pro- zess der biologisch-kulturellen Co-Evolution fortsetzen wird, kann niemand wissen, weil evolutionäre Dynamik nicht-linear und deshalb nicht voraussagbar ist. Nova Acta Leopoldina NF 110, Nr. 377, 325–352 (2011) Wolf Singer 336