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Nova Acta Leopoldina Band 110 Nummer 377

Lassen Sie mich noch einmal kurz zusammenfassen. Wir verfügen über viele von der Evolution mitgegebene, an einen kleinenAusschnitt der Welt angepasste Verarbeitungsstrategien, von denen manche nach der Geburt noch einmal, durch Anpassung an die real vorgefundene Welt, optimiert werden. Diese bestimmen unsere Wahrnehmungen und Handlungen und geben vor, was wir für selbstverständlich und absolut halten, wie z. B. sensorische Kategorien. Wir schreiben der Welt bestimmte Qualitäten zu, teilen sie ein in eine Welt des Lichts, der Klänge, ertastbarer Objekte, fühlbarer Temperaturen usw. Diese Trennungen sind willkürlich und entsprechen unserer Aus- stattung mit bestimmten Rezeptoren. Die molekulare Festlegung von Lernregeln erlaubt uns, Ur- sachen und Wirkungen zu erkennen und zu verknüpfen. Gestaltprinzipien geben vor, wie wir Objekte definieren – eine Definition, die in der Quantenwelt keine Entsprechung hat. All dies Vorwissen ist notwendige Voraussetzung für jedwede Wahrnehmung, aber es ist meist implizit. Wir wissen nicht, dass wir es haben, und deshalb gehen wir davon aus, dass unsere Wahrneh- mungen direkt und absolut sind – aber tatsächlich handelt es sich um das Ergebnis von Interpre- tationen und komplizierten Inferenzen – es sind zuschreibungen. Nicht auszuschließen ist somit, dass die Kriterien des logischen Schließens, die in Hirnarchitekturen verankert sein müssen, eben- falls idiosynkratisch sind, dass es sich auch hier um Spezialfälle handelt, die an den engen Bereich der Lebenswelt angepasst sind, aber keine allgemeine Gültigkeit beanspruchen können. Sollte dies zutreffen – und es dürfte schwierig sein, dies auszuschließen – dann haben wir ein ernstes Problem bei unserem Versuch, von der Welt, die unseren Sinnen zugänglich ist, auf die weit grö- ßere zu schließen, die wir über technische Verfahren erfassen können. Lassen Sie mich noch zwei Beispiele für die Mächtigkeit des impliziten, also nicht ge- wussten Wissens geben, damit erfahrbar wird, wie tiefgreifend unsere Wahrnehmungen von unbewussten Vorerwartungen abhängen. In Abbildung 4 sehen wir eine Form, mit der man z. B. Pralinen herstellen kann. Links die Innenseite mit konkaven Vertiefungen, rechts die Rückseite mit konvexen Erhebungen. Nun handelt es sich aber um dieselbe Form, die rechte steht nur auf dem Kopf. Das Sehsystem geht von der Vorannahme aus, dass Licht von oben kommt. Somit muss eine Kontur, die den Schatten oben hat, konkav sein und eine, die den Schatten nach unten wirft, konvex. Die Vor- annahme, woher das Licht kommt, bestimmt also, was wir wie wahrnehmen – wobei uns die Annahme nicht bewusst ist. Ein weiteres Beispiel zeigt Abbildung 5. Die beiden Tischflächen sind absolut gleich. Wenn man sie rotiert und aufeinander legt, erweisen sie sich als identisch. Dennoch nehmen wir sie als völlig unterschiedlich wahr. Warum? Weil das Gehirn Vorannahmen macht, von denen wir nichts wissen. Das Gehirn geht von einer perspektivischen Darstellung aus und berechnet dar - aus die Form der Tischflächen. Aufgrund dieser Vorannahmen präsentiert uns das Sehsystem ein Ergebnis von Rechenprozessen, von denen wir nichts wissen, deren Resultat aber eine kon- krete Wahrnehmung ist, die wir in aller Regel für zutreffend und nicht hinterfragbar halten. Noch eindrucksvoller ist das nächste Beispiel in Abbildung 6. Ohne zweifel ist Feld B we- sentlich heller als A. Wie sich nach Abdecken einiger Felder erweist, trifft dies nicht zu. A ist so dunkel wie B. Woher rührt diese Täuschung? Das Sehsystem bewertet den gesamten Kon- text. Von A und B gelangen tatsächlich, wie gerade gezeigt, gleich viele Photonen ins Auge. Nun sieht das Sehsystem aber zusätzlich den zylinder und den von ihm ausgehenden Schatten und macht folgende Inferenz: Wenn über B ein Schatten liegt und von B trotzdem genau so viele Photonen zurückkommen, wie von A, dann muss B viel heller sein als A. Also wird B hell gerechnet. Was wir wahrnehmen, ist nicht die Photonenverteilung auf der Netzhaut, son- dern das Ergebnis eines komplizierten inferentiellen Prozesses. Das hat natürlich eine wichtige Wer regiert im Kopf? – Philosophische Implikationen der Hirnforschung Nova Acta Leopoldina NF 110, Nr. 377, 325–352 (2011) 337