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Nachricht | Donnerstag, 21. Juni 2012

Interview mit dem Weizsäcker-Preisträger Jürgen Baumert

„Auf jeden empirischen Befund gibt es mindestens zwei politische Antworten“

Interview mit dem Weizsäcker-Preisträger Jürgen Baumert

Der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft und die Leopoldina haben Prof. Dr. Jürgen Baumert mit dem Wissenschaftspreis des Stifterverbandes, dem Carl Friedrich von Weizsäcker-Preis, ausgezeichnet. Der renommierte Bildungsforscher erhielt den mit 50.000 Euro dotierten Preis für seine wichtigen wissenschaftlichen Impulse, mit denen er die bildungspolitische Diskussion und die Reformanstrengungen in der deutschen Bildungslandschaft bereichert hat. Im Interview spricht Jürgen Baumert über die Erfolge der PISA-Studie und die Folgen des demografischen Wandels.

Herr Professor Baumert, sollte es nicht einen Nobelpreis für Bildungsforschung geben?

Baumert: Es gibt auch keinen Nobelpreis für Mathematik. Die Bildungsforschung führt die Warteliste nicht an.

Sie haben maßgeblich die empirische Bildungsforschung zu einer anerkannten Wissenschaft entwickelt, was sie noch vor zwei Jahrzehnten nicht war.

Baumert: Das ist freundlich gesagt, aber gewiss falsch. Es gab eine Tradition der unglücklichen Politisierung der Bildungsforschung – wie insgesamt der Sozialwissenschaften – in Deutschland, die der Reputation nicht unbedingt genutzt hat. Aber die Redisziplinierung ist geglückt. Dies ist vor allem hervorragender empirischer Forschung im gesamten Feld zu verdanken, die mittlerweile zur internationalen Spitze gehört – aber auch der konsequenten Respektierung der Grenzen zwischen Wissenschaft einerseits und Politik und Praxis andererseits. Die Anerkennung der unterschiedlichen Rationalität der drei Bereiche ist die Voraussetzung gelingender Kommunikation. Ich schätze die im Vergleich zu den Wirtschaftswissenschaften angenehme Zurückhaltung der Bildungsforschung. Auf jeden empirischen Befund gibt es mindestens zwei, in der Regel mehrere politische Antworten.

Sind Sie zufrieden mit dem, was die Politik insbesondere seit der ersten PISA-Studie – mit deren Erhebung Sie in Deutschland betraut waren – inzwischen an Anregungen aus der Bildungsforschung umgesetzt hat?

Baumert: Viele Dinge sind seitdem durch politische Umsicht, aber auch durch glückliche Umstände gut gelaufen. Ich erinnere nur daran, dass noch in den 1990er Jahren Politik und Öffentlichkeit davon überzeugt waren, dass Deutschland eines der besten und gerechtesten Schulsysteme besitze, von dem die Welt lernen könne. Die Daten der ersten internationalen Vergleiche bescheinigten Deutschland nicht einmal Mittelklasse im Leistungsbereich – ganz zu schweigen von sozialen und ethnischen Ungleichheiten, wie man sie in keinem anderen OECD-Staat fand. Die Bundesländervergleiche haben dann das Leistungsgefälle in Deutschland sichtbar gemacht. Dies hat der Öffentlichkeit und der Politik die Augen geöffnet und Maßstäbe neu justiert. Mittlerweile haben Bund und Länder eine Infrastruktur geschaffen, die eine Dauerbeobachtung des Bildungssystems sicherstellt: Es gibt einen hervorragenden nationalen Bildungsbericht, internationale Vergleichsuntersuchungen, zu deren Teilnahme sich Bund und Länder über Legislaturperioden hinaus verpflichtet haben, und Ländervergleiche, die für Transparenz innerhalb Deutschlands sorgen. Und die Länder haben mit den Bildungsstandards gesamtstaatliche Orientierungspunkte gesetzt, an deren Umsetzung – vielleicht noch nicht intensiv genug – gearbeitet wird. Vor zwölf Jahren hätte eine solche Vision als blanke Utopie gegolten.

Aber auch gut ein Jahrzehnt nach der ersten PISA-Studie verfehlt noch immer fast jeder fünfte Schüler grundlegende Bildungsziele. Hat sich in der Schulpraxis also doch nicht viel verändert?

Baumert: Das Bildungssystem ist ein schwerer Tanker. Es dauert eine gewisse Zeit, bis Kursänderungen Wirkung zeigen. Aber sie wirken – und schneller, als ich es erwartet hatte. 2010 wurde mit wirklich messbaren, positiven Ergebnissen Zwischenbilanz gezogen. Deutschland gehört zu den wenigen OECD-Staaten, die in allen untersuchten Bereichen signifikante Leistungssteigerungen zu verzeichnen hatten. In den Naturwissenschaften ist sogar der Anschluss an die Spitzengruppe gelungen. Unser Bildungssystem ist auch sozial etwas gerechter geworden, die Risikogruppen haben sich verkleinert, und der Bildungserfolg von jungen Menschen aus Zuwandererfamilien deutet auf besser gelingende Integration. Jetzt kommt es darauf an, den eingeschlagenen Kurs beizubehalten und die ergriffenen Maßnahmen zu bündeln und ihre Qualität und Effizienz zu steigern.

Trotzdem haben Sie vor einiger Zeit die Befürchtung ausgesprochen, die Länder würden zu einer Diagnose des Schulsystems durch die Wissenschaft weniger bereit sein.

Baumert: Es gilt bis heute: Mit Bildungspolitik kann man Wahlen verlieren, aber nicht gewinnen. Deshalb ist die Versuchung der Länder – insbesondere von Ländern mit Strukturproblemen – immer groß, die Dinge etwas weniger klar in der Öffentlichkeit zu diskutieren. Hier ist die Öffentlichkeit aufgerufen, auf Transparenz zu bestehen.

Schlechte Schüler werden wahrscheinlich keine guten Studenten. Welche Perspektive geben Sie der deutschen Wissenschaft?

Baumert: Die Antwort muss differenziert sein. Bei steigender Quote der Studienberechtigten stagniert der Anteil der Studierwilligen seit Jahren bei etwa 75 Prozent. Trotz der Expansion des Gymnasiums sind die Leistungen in den letzten zehn Jahren stabil geblieben. Die Zielmarke des Wissenschaftsrats für die Hochschulabsolventenquote ist noch längst nicht erreicht. Also: Nachholbedarf in der Breite. Nimmt man die Forschung und die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses in den Blick – also die akademischen Spitzenleistungen – muss man anerkennen, dass Deutschland ausgesprochen erfolgreich ist. Der wissenschaftliche Nachwuchs spielt in den unterschiedlichen Disziplinen weltweit an der Spitze mit. Die Hochschulen haben die Nachwuchsförderung – nicht zuletzt durch die Graduierten-Programme der DFG und die Exzellenzinitiative – systematisch verbessert. Die Max-Planck-Gesellschaft ist mit ihren International Graduate Schools Wegbereiter für ein Erfolgsmodell. Auf diesem Feld mache ich mir überhaupt keine Sorgen.

Der demografische Wandel verändert auch die Sozialstruktur an den Schulen. Was ist zu tun, damit das Leistungsniveau nicht wieder absinkt?

Baumert: In der Tat wird sich die soziale Zusammensetzung der Schulbevölkerung in den nächsten 10 bis 15 Jahren deutlich ändern. Der Grund dafür ist die relative Zunahme von Kindern mit Migrationshintergrund in den jüngeren Altersgruppen, die überwiegend aus sozial schwächeren Familien stammen. Heute stammen rund 30 Prozent der 15-Jährigen aus Zuwandererfamilien, bei den Ein- bis unter Fünfjährigen sind es schon 35 Prozent. Ihr Anteil wird in den nächsten Jahren weiter auf 40 Prozent steigen. In den Ballungszentren der westdeutschen Flächenstaaten beträgt er bereits heute zwischen 50 bis 70 Prozent. Kinder aus in der Regel sozial schwächer gestellten Zuwandererfamilien bilden die Mehrheit. Das ist eine neue Situation. Umso dringender benötigen wir eine verlässliche und rechtzeitige Förderung gerade dieser Kinder, um ihnen einen sozialen Aufstieg als Voraussetzung struktureller Integration zu ermöglichen. Das ist eine große Herausforderung.

Was empfehlen Sie der Politik?

Baumert: Bund und Länder bemühen sich zurzeit um eine Initiative zur systematischen Frühförderung im Sprach- und Lesebereich. Gutes Sprach- und Leseverständnis ist eine Schlüsselkompetenz, die alle anderen Lernprozesse erschließt. Ich hoffe, dass es zu einer breiten Initiative kommt, die vorhandene Ansätze bündelt, fokussiert und eine systematische Auswahl unter erfolgreichen Programmen trifft, die dann in die Breite gehen.

Was geben Sie den Bildungsforschern der nächsten Generation mit auf den Weg?

Baumert: Die Stabilisierung der Infrastruktur der Bildungsforschung, die auf einem guten Weg ist, liegt mir sehr am Herzen. Dafür sind zwei Dinge notwendig, für die die jetzige Professorengeneration die Verantwortung trägt: exzellente Forschung und exzellente Nachwuchsförderung. Auch die Leopoldina hat hier eine wichtige Funktion. Die Rekrutierung der besten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der jüngeren Generation ist eine wirkliche Herausforderung für die Akademie.


Das Interview führte die Journalistin Ute Semkat für den Newsletter der Leopoldina „Leopoldina aktuell“, veröffentlicht in Ausgabe 2|2012.