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Pandemien als besondere Herausforderung

Pandemien als besondere Herausforderung

Grafik: Sisters of Design

Eine besondere Herausforderung stellt das Impfen der Bevölkerung während einer Pandemie dar. Um die weitere Ausbreitung eines Erregers zu verhindern, muss schnell gehandelt werden. Neu entwickelte Impfstoffe können deshalb in einem beschleunigten Verfahren zugelassen werden. Dabei werden die Risiken abgewogen zwischen möglichen Nebenwirkungen durch den Impfstoff und den akuten Gesundheitsgefahren durch die weitere Ausbreitung des Erregers.

Während der Coronavirus-Pandemie wurden Impfstoffe gegen den Erreger SARS-CoV-2 so schnell wie noch nie zuvor entwickelt. Weltweit haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mittels modernster Technologien und mit staatlicher und überstaatlicher Förderung daran gearbeitet. Dabei konnten sie auf Erkenntnissen über andere Coronaviren aufbauen. Im Dezember 2020 wurde in der EU der erste Impfstoff gegen die von SARS-CoV-2 verursachte Krankheit COVID-19 in beschleunigten Verfahren zugelassen.

Hierbei wurden auch die Abläufe beschleunigt: Im Rolling-Review-Verfahren wurden der Europäischen Arzneimittelagentur die ersten Daten bereits zur Prüfung vorgelegt, während parallel Phase II- und Phase-III-Studien liefen. So konnten Zulassungsanträge für Impfstoffe deutlich schneller als üblich bearbeitet werden. Dieses Verfahren spart somit wertvolle Zeit, ohne Abstriche bei der Sorgfalt zu machen. Ein Impfstoff erhält – auch in einem beschleunigten Verfahren – in Deutschland oder der EU nur dann eine Zulassung, wenn er nachweislich von hoher Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit ist.

Prof. Dr. Stefan H. E. Kaufmann über beschleunigte Zulassungen

Infektionsbiologe

„In speziellen Situationen ist das völlig berechtigt.“

Bei der beschleunigten Zulassung der COVID-19-Impfstoffe handelt es sich um eine bedingte Zulassung. Diese ist an strenge Auflagen geknüpft. So sind die Hersteller verpflichtet, auch weiterhin Daten vorzulegen, die zeigen, dass der Nutzen des Impfstoffes die Risiken überwiegt. Neben der bedingten Zulassung gibt es die Zulassung unter außergewöhnlichen Bedingungen. Diese wird umgangssprachlich auch als Notfallzulassung bezeichnet. Dabei handelt es sich um die Sondererlaubnis, einen nicht zugelassenen Impfstoff unter bestimmten Bedingungen in einer Notsituation anzuwenden. Nach Einschätzung des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) kommt diese Form der Zulassung für COVID-19-Impfstoffe in Deutschland nicht in Frage.

Dass es nicht immer gelingt, so schnell einen wirksamen Impfstoff gegen einen pandemischen Erreger zu entwickeln, demonstriert das Beispiel HIV/Aids. Trotz jahrzehntelanger Forschung existiert bis heute keine Impfung gegen das Virus. Immerhin konnten Medikamente entwickelt werden, mit denen Infizierte inzwischen vergleichsweise lange leben können.

Prof. Dr. Helga Rübsamen-Schaeff über HIV/Aids und den Kampf gegen Infektionskrankheiten

Biochemikerin

„Man kann nicht immer einen Impfstoff herstellen.“

Priorisierung – Ethik, Recht und Medizin miteinander abwägen

Steht ein Impfstoff zur Verfügung, gibt es am Anfang in der Regel nicht genügend für alle Menschen. Deshalb muss festgelegt werden, welche Personengruppen zuerst geimpft werden. Diese Priorisierung muss sehr gut begründet werden. Hierbei gilt es, medizinische, rechtliche und ethische Überlegungen einzubeziehen.

Bei einer solchen Entscheidung spielen mehrere ethische Prinzipien eine Rolle: die Selbstbestimmung jedes Einzelnen, das Verhindern schwerer Schäden (Grundsatz der Nichtschädigung), die Gerechtigkeit und grundlegende Rechtsgleichheit, die Solidarität sowie die Dringlichkeit. All diese Prinzipien fließen in die Entscheidung ein und werden verknüpft mit gesicherten virologischen und epidemiologischen Erkenntnissen sowie dem gesetzlichen Rahmen. Während der Coronavirus-Pandemie haben im November 2020 der Deutsche Ethikrat, die Ständige Impfkommission und die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina ein gemeinsames Positionspapier zur Regelung des Zugangs zu einem COVID-19-Impfstoff veröffentlicht, das auch die Frage der Priorisierung behandelt.

Prof. Dr. Alena Buyx über die Herausforderung Priorisierung

Ärztin und Medizinethikerin

„Es geht um Fragen von Lebens- und Gesundheitsschutz.“

Alena Buyx, Professorin für Ethik der Medizin und Gesundheitstechnologien / Alena Buyx, Professor of Ethics in Medicine and Health Technologies

Prof. Dr. Alena Buyx zum Common Sense bei der Priorisierung von Impfungen gegen das Coronavirus

„Die Priorisierungsentscheidung steht auf einer guten Basis.“

Der verfassungsrechtliche Grundsatz „Gleiche gleich – Ungleiche ungleich“ wird auch herangezogen, wenn über die Verteilung knapper Impfstoffe entschieden werden muss. So haben während der Coronavirus-Pandemie zum Beispiel ältere Menschen in Pflegeheimen ein wesentlich höheres Risiko, mit einem schweren oder tödlichen Verlauf an COVID-19 zu erkranken. Dieses Risiko ist um ein Vielfaches geringer bei jüngeren Menschen, die im eigenen Zuhause wohnen. Von daher ist eine ungleiche Behandlung – in diesem Fall, dass ältere Menschen zuerst geimpft werden – gerechtfertigt. Ähnlich stellt sich die Frage beim Vergleich von Pflegepersonal in Kliniken und häuslicher Pflege durch Angehörige.

Prof. Dr. Alena Buyx über die Abwägung bei der Impfstoffverteilung

Welche Rolle spielen Gerechtigkeit, Solidarität und Nichtschadensprinzip im Einzelfall?

Die Priorisierung bei Impfungen gegen COVID-19 kann nicht auf zukünftige Pandemien, Erreger und Impfungen übertragen werden. Die ethischen und rechtlichen Prinzipien bleiben zwar die gleichen, aber neue Erreger können sich über andere Wege verbreiten und zu anderen Krankheitsverläufen führen. Somit könnten auch andere Risikogruppen entstehen. Eine Priorisierung muss immer wieder aufs Neue verhandelt werden.

Impfen als individuelle Entscheidung und gesellschaftliche Verantwortung

Bei der individuellen Entscheidung für oder gegen eine Impfung können eine Reihe an Gründen ausschlaggebend sein. In einer Pandemie spielt vor allem die wahrgenommene Sicherheit der neuen Impfstoffe eine wichtige Rolle. Bei Impfungen gegen COVID-19 zeigt sich in der Bevölkerung: Je größer das Vertrauen in die Sicherheit, umso höher ist die Impfbereitschaft. Seit der Zulassung der ersten COVID-19 Impfstoffe ist das Vertrauen in die Sicherheit der Impfstoffe im Durchschnitt gestiegen, damit erhöhte sich auch die Impfbereitschaft. Dies bedeutet allerdings im Umkehrschluss, dass Ereignisse, die das Vertrauen in die Sicherheit der Impfungen erschüttern, zu einem Sinken der Impfbereitschaft führen können.

Abbildung 6: Entwicklung von Impfbereitschaft, Impfvertrauen (Confidence) und Verantwortungsgefühl für die Gemeinschaft (Collective Responsibility) in Deutschland, Mittelwerte im Verlauf der Coronavirus-Pandemie. Die psychologischen Gründe für die Impfentscheidung (Confidence und Collective Responsibility) erfasst nach 5C-Skala, Kurzversion (Betsch et al., 2018). Quelle: COSMO – COVID-19 Snapshot Monitoring, Universität Erfurt | Gestaltung: Emde Grafik

Ebenso spielt das Prinzip des Gemeinschaftsschutzes eine Rolle bei der individuellen Impfentscheidung. So lassen sich Personen eher impfen, wenn sie wissen, dass sie mit einer Impfung insbesondere auch chronisch kranke und geschwächte Menschen schützen. Es ist daher wichtig, dass ausreichend Informationen darüber vorliegen, inwieweit Impfungen nicht nur die Erkrankung, sondern auch die Übertragung eines Erregers an andere Menschen verhindert. Der Aspekt des Gemeinschaftschutzes ist für viele Menschen auch bei der Impfung gegen COVID-19 relevant.

Entscheidend ist auch der Abbau praktischer Impfbarrieren im Alltag der Menschen. Das gilt besonders in der Pandemie: Denn wer wenig Vertrauen in die Impfung hat, lässt sich auch eher durch äußere Umstände abhalten. Befragungen zeigen, dass schon die Organisation eines Impftermins von vielen Menschen als Herausforderung wahrgenommen wird.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) beschreibt Impfen gleichzeitig als Grundrecht und als soziale Verantwortung. Während einer Pandemie bekommt die Verantwortung für die Gesellschaft und für das Gesundheitssystem ein besonderes Gewicht. Es gilt, die Ausbreitung der Pandemie zu verhindern und möglichst einen Herdenschutz aufzubauen. Selbst wenn ein Impfstoff so beschaffen ist, dass er zwar die Krankheit, aber nicht oder nur eingeschränkt die weitere Ansteckung verhindert, hilft Impfen der Gemeinschaft. Durch weniger schwere Erkrankungen sinkt die allgemeine Krankheitslast und das Gesundheitswesen wird entlastet. Das ist besonders während einer Pandemie wichtig.

Während einer Pandemie verändert sich der Wissensstand ständig. Forscherinnen und Forscher finden mehr über einen Erreger heraus, sie lernen seine Eigenschaften immer besser kennen. Bei neuen Impfstoffen werden Wirkungen gegen Mutanten und mögliche Nebenwirkungen im Laufe der Zeit besser verstanden. Gleichzeitig verschiebt sich die Risikowahrnehmung durch eine Pandemie. Einerseits sind Krankheits- und Ansteckungsrisiken der Bevölkerung besonders präsent. Andererseits sind die Impfstoffe neu und es tauchen viele Fragen auf. Die Menschen möchten ihre Entscheidungen auf Basis verlässlichen Wissens treffen und sollten sich – auch während einer Pandemie – über alle Aspekte einer Impfung informieren können.

Prof. Dr. Alena Buyx über Impfkommunikation

„Fragen ernst nehmen.“

Um möglichst schnell allen Menschen, die geimpft werden wollen, ein Impfangebot zu unterbreiten, können Staaten während einer Pandemie stärker als sonst in Marktmechanismen eingreifen. Die Bereitstellung eines Impfstoffs darf nicht nach den Regeln von Angebot und Nachfrage erfolgen, sondern muss zum Beispiel die Priorisierung sicherstellen. So werden in der EU Impfstoffe zentral für alle Mitgliedstaaten eingekauft und an die Mitgliedsländer weitergeleitet. Diese stellen die Verteilung im Land sicher, organisieren die Logistik, bauen Impfzentren auf und sorgen dafür, dass möglichst schnell jede Bürgerin und jeder Bürger die Möglichkeit zur Impfung bekommt.

Prof. Dr. Alena Buyx zum Impfangebot an Bürgerinnen und Bürger

„Es gibt meiner Meinung nach eine moralische Pflicht.“