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Interview zur Jahresversammlung 2023

„Die Natur selbst hat keine Gesetze“

Die wissenschaftliche Organisation der Jahresversammlung am 28. und 29. September lag in den Händen dreier Leopoldina-Mitglieder: des Romanisten Andreas Kablitz, Direktor des Petrarca‐Instituts der Universität zu Köln, des Juristen Andreas Voßkuhle, Direktor des Instituts für Staatswissenschaft und Rechtsphilosophie an der Universität Freiburg, und des Physikers Konrad Samwer von der Universität Göttingen. Im Gespräch setzen sie sich mit dem Thema „Gesetz(e): Regeln der Wirklichkeit – Regeln für die Wirklichkeit“ auseinander.

Wie kam Ihnen die Idee zu diesem Jahresthema?
Andreas Kablitz: Unsere Grundüberlegung war, ein Thema zu finden, das die Leopoldina insgesamt in ihren unterschiedlichen Bereichen interessieren könnte, das die unterschiedlichen Wissenschaftskulturen unter dem Dach eines Themas zusammenbindet und es gleichzeitig ermöglicht, unter diesem gemeinsamen Dach unterschiedliche Kulturen und Sichtweisen zur Geltung zu bringen. Der Begriff des Gesetzes, der Naturgesetze und die Gesetze der Juristen umfasst, erschien uns dafür als geeignet. Sprachlich sind Gesetze das „Gesetzte“, von Menschen Festgelegte.

Wie passt der Begriff zu den „entdeckten“, schon zuvor bestehenden Gesetzmäßigkeiten in der Natur?
Konrad Samwer: Natur-„Gesetze“ im klassischen Sinn, um das gleich vorweg zu sagen, die gibt es eigentlich nicht. Die Natur selbst hat keine Gesetze, wir beschreiben als Menschen Beobachtungen und formulieren sie mathematisch aus. Es sind also menschengemachte, meist mathematische Formulierungen über Regelmäßigkeiten, die wir in der Natur beobachten. Ein Beispiel: Die berühmten Kepler-Gesetze beschreiben den Umlauf der Erde um die Sonne. Genau genommen handelt es sich aber um eine Wechselwirkung zwischen all diesen Planeten und der Sonne, und sogar der Mond hat einen Einfluss auf die Umlaufbahn. Die Kunst der Physik besteht darin, Näherungen zu suchen und sie mathematisch zu benennen. Und das, ohne falsch zu liegen, gleichzeitig aber auch, ohne es zu kompliziert zu machen. Aus den Gesetzmäßigkeiten, die wir aufstellen, lassen sich dann oft Vorhersagen ableiten, die man überprüfen kann. Die Vorhersagen, die Carl Gauß zur Wiederkehr des Asteroiden Ceres machte, stimmten zum Beispiel auf den Tag. Wir freuen uns aber auch darüber, einmal formulierte Gesetze zu widerlegen oder zu ergänzen.
Andreas Voßkuhle: Darin kann man eine Gemeinsamkeit zwischen juristischen Gesetzen und Naturgesetzen erkennen: Sie sind veränderbar, geben aber eine Zeitlang Orientierung bei der Erklärung der Welt und eine Anleitung, wie mit ihr umzugehen ist. Für uns Juristinnen und Juristen ist der Begriff „Gesetz“ natürlich zentral. Für die Jahresversammlung haben wir ihn gewählt, weil er eine gute Brücke darstellt: Ein Verbundbegriff, mit dem wir verschiedene Perspektiven verbinden und dabei auch sehen können, dass sie sich manchmal mehr ähneln, als dass sie sich unterscheiden.

Juristische Gesetze entstehen aber doch auf einem ganz anderen Weg als die der Naturwissenschaften.
Voßkuhle
: Ja, das demokratische Gesetz ist das Endprodukt eines parlamentarischen Prozesses. Juristinnen und Juristen denken viel darüber nach, warum Gesetze eigentlich gelten, was ihre Normativität ausmacht, warum wir sie befolgen. Wenn wir an Recht in einem modernen Rechtsstaat denken, dann haben wir Durchsetzungsinstanzen wie Polizei und Gerichte. Interessant ist aber, dass es Entscheidungen gibt, die auch ohne solche Instanzen beachtet werden, etwa die von Verfassungsgerichten. Wir haben es also mit einem schillernden Gegenstand zu tun, der sofort seine Eindeutigkeit verliert, wenn wir etwas länger darüber nachdenken.

Kann die Vorstellung von einem vorgegebenen „Naturrecht“ als Brücke zwischen juristischen und naturwissenschaftlichen Gesetzen gelten?
Voßkuhle:
Das haben wir lange geglaubt: Die Vorstellung von etwas Göttlichem, das der Mensch erkennen und in ein Gesetz überführen kann, hat ja eine lange Tradition. Spätestens mit dem Aufkommen der Analytischen Philosophie zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Vorstellung eines solchen Naturrechts aber problematisch. In Deutschland erlebte sie eine Renaissance, als es um die Gräueltaten der NS-Zeit ging und sich die Frage stellte, ob es nicht auch positive Gesetze gibt, die Unrecht sind, weil sie gegen die Gerechtigkeitsidee verstoßen. In der berühmten Formel von Gustav Radbruch kann evidentes Unrecht kein Recht sein. Nach der Wiedervereinigung wurde diese Argumentation bei der Verurteilung der Mauerschützen wieder aufgegriffen, deren Taten in der DDR ja gesetzlich erlaubt waren. Wir leben zwar in einer säkularen Gesellschaft, glauben aber, dass wir das Ungerechte erkennen können. Insofern bleibt ein Rest des Naturrechts erhalten, auch als Teil unserer Rechtsordnung. Auch hier erkennen wir, dass der Gesetzesbegriff ein Verbundbegriff ist, der aufschließt zu Grundfragen der Philosophie und auch der Theologie.

Welche Rolle spielen die Gesetze der Religionen, der Ethik und Moral für Ihr Thema?
Kablitz:
Eine wichtige. Wir haben gesehen, dass die Wortbedeutung „das Gesetzte“ auch zu einem modernen Konzept von Naturgesetzen passt. Hier hat die Entwicklung die alte Wortbedeutung wieder eingeholt: In der griechischen Mythologie ist es das Konsilium der Götter im Olymp, das die Gesetze für die Natur „setzt“.
Samwer: Auch die Naturwissenschaftler haben früher alles, was sie nicht erklären konnten, höheren Mächten zugeordnet.
Voßkuhle: Mit dem Begriff „Gesetz“ sind historisch viele Dinge verbunden, die aus heutiger Sicht unwissenschaftlich und unreflektiert wirken könnten. Auch insofern ist das ein gutes Thema für eine wissenschaftliche Akademie.

Gibt es bei aller Unterschiedlichkeit der Forschungsgegenstände, der Untersuchungsmethoden und der Wissenschaftskulturen etwas, das alle Wissenschaften eint?
Samwer: Uns eint die Erkenntnis, dass wir in aller Demut nur einen Teil der Wirklichkeit verstehen. Schon deshalb braucht Wissenschaft den lebendigen, offenen und unerschrockenen Diskurs über die Grenzen der Disziplinen hinweg.
Voßkuhle: Ich glaube auch, dass der Umgang mit Nichtwissen eine gemeinsame Herausforderung für uns ist, er ist bei aller Unterschiedlichkeit konstitutiv für unsere wissenschaftliche Vorgehensweise. Dass wir nie das Ganze erklären können und mit Unsicherheiten umgehen müssen, ist eine Grundüberlegung, die zu einer gewissen Demut führen sollte.
Kablitz: Dem stimme ich völlig zu. Leider gibt es zwei Hürden, die der notwendigen Demut im Wege stehen: Psychologisch gesehen motiviert Forschende eher die Aussicht auf bahnbrechende Erkenntnisse. Und unsere Sprache verführt uns zur Annahme von Tatsächlichkeiten. Beides sollten wir uns bewusst machen.

Das Gespräch führte Adelheid Müller-Lissner