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Nationale Empfehlungen

Energieforschungskonzept (2009)

Konzept für ein integriertes Energieforschungsprogramm für Deutschland

 

(2009)

In einer gemeinsamen Stellungnahme fordern die drei Wissenschaftsakademien eine Forschungsoffensive zugunsten einer integrativen und disziplinenübergreifenden Energieforschung sowie die Einrichtung eines nationalen Koordinierungsgremiums mit Richtlinienkompetenz. Die Akademien weisen darauf hin, dass die Lösung der Energiefrage im Spannungsfeld von Klima- und Umweltschutz sowie Versorgungssicherheit eine existentielle Aufgabe der Zukunft ist.

Die Energieforschung in Deutschland muss alle Optionen für die zukünftige Energieversorgung im Spannungsfeld von Klima- und Umweltschutz und Versorgungssicherheit zu wirtschaftlich vertretbaren Kosten bereitstellen. Nur so eröffnet sie der Politik einen langfristigen Handlungs- und Entscheidungsspielraum. Hierbei liegen Schwerpunkte der Forschung sowohl auf der Angebotsseite (Bereitstellung und Verteilung) wie auch auf der Nachfrageseite (Anreize für nachhaltige Energieversorgung, neue Konsummodelle und Akzeptanz durch Regierungen, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Individuen).

Um den Weg für die Umsetzung zukünftiger Technologieoptionen und Maßnahmen offenzuhalten, muss die Forschung dabei die Unabhängigkeit besitzen, auch über längere Zeiträume Aspekte zu bearbeiten, die gegenwärtig nicht im Mittelpunkt der politischen Handlungsoptionen liegen. Dies ist besonders dringend vor dem Hintergrund, dass die politischen, sozioökonomischen, ökologischen und klimatischen Randbedingungen und Handlungsoptionen der Politik für die nächsten 20, 50 oder gar 100 Jahre kaum vorhersehbar sind.

Bei der Betrachtung der gegenwärtigen Forschungslandschaft wird deutlich, dass häufig – meist rein technologische – Einzelaspekte der Bereitstellung, Wandlung, Verteilung, Speicherung und Nutzung von Energie im Zentrum stehen, was den Blick auf das Gesamtsystem verstellt. Dreh- und Angelpunkt der Energieforschung muss jedoch eine systemische Perspektive sein. Die technischen und organisatorischen Lösungen für den notwendigen Übergang in eine nachhaltige Energieversorgung lassen sich nur in dem komplexen Umfeld von technischen, sozialen, politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Wechselbeziehungen beurteilen und effektiv umsetzen. Im Zeitalter der Globalisierung ist die Energieforschung dabei auf eine integrative und internationale Perspektive angewiesen.

 

Folgende Forschungsfelder können diese Leitlinien umsetzen:

- Eine zukünftige Energieversorgung muss zwingend Effizienzpotenziale ausschöpfen. Dies gilt sowohl für bestehende wie auch für zukünftige Systeme entlang der gesamten Prozesskette – von der Bereitstellung über den Transport und die Speicherung bis hin zur Nutzung. Besondere Chancen liegen in einer vernetzten Energieoptimierung in urbanen Ballungszentren unter Einbeziehung von Stadtplanung, Raumordnung, Gebäudeauslegung, integrierten Mobilitätskonzepten sowie in diesen Systemzusammenhang passenden Technologien wie intelligente Wärme und Stromsteuerung in Haushalten und integrierte Abwärmenutzung (Energieeffiziente Stadt). Gleiches gilt für Großenergieverbraucher wie die Stahl- und Zementindustrie.

- Mittelfristig werden weltweit die fossilen Energieträger bedeutend bleiben. Da bei ihrer Verbrennung klimarelevantes CO2 anfällt, ist eine weitgehende Entkarbonisierung des Energiesystems eine Schlüsselaufgabe. Wichtig ist dabei, dass alle Optionen der Entkarbonisierung vergleichend untersucht und ihre Nebenwirkungen auf Wirtschaft, Umwelt und Gesellschaft abgeschätzt werden. Optionen wie die Abtrennung und Speicherung des Kohlendioxids (CCS: Carbondioxide Capture and Storage) oder die Nutzung von CO2-Senken müssen dabei auf ihre technische Machbarkeit, Langzeitsicherheit, Wirtschaftlichkeit, Kompatibilität mit dem restlichen Energieversorgungssystem und der Vereinbarkeit mit den Werten und Präferenzen der Bürgerinnen und Bürger überprüft werden.

- Bei allem Bemühen um eine effiziente Nutzung der bisher eingesetzten Primärenergieträger werden innovative Technologien der Bereitstellung dringend benötigt. Entwicklungslinien mit hohem Forschungsbedarf sind Photovoltaik, Offshore-Windanlagen, grundlastgeeignete Kraftwerke für tiefe Geothermie, solarthermische Großkraftwerke in Südeuropa mit den entsprechenden Konsequenzen für Speicherung und Transportnetze sowie Kernkraftwerke der 4. Generation. Unabhängig davon, ob Deutschland den Pfad der Kernenergienutzung weiter verfolgt, ist die Erforschung neuer nuklearer Technologien vor allem auch im Hinblick auf die Verbesserung der Sicherheit und die Endlagerung eine Zukunftsaufgabe, an der sich Deutschland aus nationalem und weltweitem Interesse wie aus Verantwortung für die globale Energieversorgung beteiligen sollte. Bei der Erschließung nicht-konventioneller Öl- und Gasvorkommen sollte Deutschland auf den Forschungsfeldern mitwirken, auf denen ein wissenschaftlicher oder technologischer Vorsprung vor Ländern besteht, die über die entsprechenden Lagerstätten verfügen. Eine langfristig besonders vielversprechende Option ist die Kernfusion, deren Erforschung in den etablierten internationalen Kooperationen weiter vorangetrieben werden sollte. Begleitend ist die Erforschung der Bedingungen erforderlich, unter denen innovative Lösungen entstehen und sich im Markt etablieren, sowie den Barrieren, die Innovationen im Energiesystem verhindern.

- Die Eignung verschiedener Arten von Biomasse für die energetische Nutzung sollte neu überprüft und die Forschung unter Berücksichtigung von Skaleneffekten und unter systemischen Gesichtspunkten (Nahrungsmittel-Konkurrenz, hoher Wasserbedarf, Umweltverträglichkeit, Logistik, Basis des Mobilitätssystems, Biomasse als CO2-Senke, Bioökonomie) vorangetrieben werden. Hierbei sollte das Potenzial moderner Verfahren der Biomasseverwertung (Verfahren der 2. Generation) durch intensive Forschung eruiert und weiterentwickelt werden.

- Für die in Zukunft stärker diversifizierten Bereitstellungstechnologien müssen verlustarme Netzkonzepte entwickelt werden, mit denen auf Schwankungen oder auf Störungen flexibel reagiert werden kann. Hierzu wird eine hoch entwickelte Netzsteuerung mit fortgeschrittenen Speichertechnologien zu kombinieren sein. Die Speichertechnologien müssen deutlich weiterentwickelt werden, da sowohl direkte elektrische als auch thermische, mechanische sowie stoffliche Speicher zukünftig wichtige Bausteine einer integrierten Netzstruktur sein werden. Im Sinne der systemischen Perspektive ist besonders auf eine optimale Auswahl und Kopplung von Netz- und Speichertechnologien sowie auf Interaktionen mit den Markt-, Vertrags- und Rechtssystemen der beteiligten Staaten zu achten.

- Bei den verschiedenen Nutzungsformen ist besonders die Forschung im Bereich der Mobilität geboten, da hier der Energieverbrauch weltweit kontinuierlich zunimmt. Zu erwarten ist eine mittelfristige Umstellung des Individualverkehrs auf Elektroantriebe. Im Fokus sollte dabei die Erforschung der Potenziale und der Probleme bei einer Umstellung des Individualverkehrs auf Elektroantriebe stehen. Dabei kommt der Batterieforschung, auch jenseits der Lithium-Ionen-Batterie, besondere Bedeutung zu. Grundsätzlich muss eine stärkere Integration technologischer und gesellschaftlicher Mobilitätskonzepte untersucht werden, wozu auch die Integration von Elektrofahrzeugen in die Netzinfrastruktur gehört.

- Hohe Temperaturen, verbunden mit aggressiven Medien oder hohen Neutronenflüssen, erfordern neue Materialien für den Einsatz unter extremen Bedingungen (z. B. für effizientere thermische, solarthermische oder nukleare Kraftwerke). Basierend auf der Stärke der Material- und Werkstoffforschung in Deutschland sollte dieses FuE-Gebiet in Deutschland schnell und effizient ausgebaut werden.

- Unabhängig von der industriellen Umsetzung von Technologien besteht aber auch die Notwendigkeit, das grundlegende Verständnis von energieübertragenden Prozessen auf molekularer Ebene zu verbessern, insbesondere von Mehrelektronen-Transferprozessen, auch über Phasengrenzen hinweg. Ein enges Zusammenspiel von Chemie, Physik und Biologie kann hier die Grundlage für die Optimierung bestehender Verfahren und für die Entwicklung ganz neuer Technologien bilden.

- Entscheidungen in Energiepolitik und Energieforschung erfolgen vor dem Hintergrund von Annahmen über zukünftige Entwicklungen („Energiezukünfte“). Diese Annahmen betreffen z.B. die Verfügbarkeit und Sicherung der wirtschaftlichen Versorgung angesichts geopolitischer Verschiebungen, die Wirksamkeit von Anreizsystemen und die Abschätzung von Kosten und Folgen im gesamten Zyklus (Vollkostenrechnung), die Reichweite von internationalen Vereinbarungen oder die Akzeptanz von Technologien oder Lebensstiländerungen. Zur Ausgestaltung des notwendigen Übergangs in eine nachhaltige Energieversorgung benötigt die Energiepolitik deshalb integrierte Modelle und Szenarien, die in der Lage sind, verschiedene Handlungsoptionen, deren voraussichtliche Vor- und Nachteile sowie deren Umsetzungschancen zuverlässig abzuschätzen – und zwar mit allen Unsicherheiten, die damit verbunden sind. Die Forschungsaktivitäten sind vor allem auf die Interaktionen zwischen den Bereichen Technologieentwicklung, Diffusion von Innovationen, rechtliche und ethische Bewertungen, staatliche Regulierung sowie sozio-politische Anreize und Barrieren auszurichten. Besonderes Augenmerk muss dabei auf die globale Situation und die Möglichkeiten internationaler Kooperation gelegt werden.

- Die bisher erreichten Einsparungen im Energieverbrauch durch Verbesserungen der Effizienz wurden weltweit immer wieder durch den Mehrkonsum von Energiedienstleistungen in nahezu allen Ländern überkompensiert. Dem Thema Nachfrage nach Energiedienstleistungen sollte künftig wesentlich mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der systematischen und praxisorientierten Instrumentenforschung. Bis heute ist weitgehend ungeklärt, welche ökonomischen, rechtlichen und politischen Steuerungsinstrumente die energie- und klimapolitischen Ziele effektiv, effizient, rechts- und sozialverträglich erfüllen helfen und wie sich diese in die globalen Rechts- und Governance-Strukturen wirksam einbinden lassen. Dies erfordert die Entwicklung völlig neuer integrativer Forschungsansätze. Vor allem sind sogenannte Second Best-Strategien zu erforschen, die dann greifen, wenn beispielsweise ein weltweit geltendes klimapolitisches Abkommen nicht zustande kommt. Die Energiepolitik braucht mehr Wissen darüber, in welcher Weise psychologische, kulturelle und institutionelle Kontextbedingungen die Nachfrage nach Energiedienstleistungen und die Akzeptanz von Energietechnologien und energiepolitischen Maßnahmen beeinflussen.

Das Zusammenspiel aller angesprochenen Forschungsfelder lässt sich nur durch eine systemische Herangehensweise und unter Einbeziehung von Expertise aus unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen adäquat bearbeiten.

Energieforschung wird in Deutschland an Universitäten, Großforschungszentren, in Max-Planck- und Fraunhofer-Instituten und in der Industrie durchgeführt. Eine solche Pluralität an energiebezogenen Forschungseinrichtungen im Grundlagen- wie Anwendungsbereich ist grundsätzlich positiv zu beurteilen. Um die notwendigen Forschungsanstrengungen in Deutschland effizient umzusetzen, ist aber eine geeignete Koordinationsstruktur zu schaffen, sonst wird sich die erforderliche systemische Sichtweise nicht durchsetzen.

Für eine kontinuierliche, interdisziplinäre und systematische Arbeit auf dem Feld der Energieforschung sind in Deutschland neue Forschungsstrukturen nötig, die außeruniversitäre und universitäre Kompetenzzentren zusammenführen und eine Basis für Kooperationen mit der Industrie bilden. Ob hierzu auch die Bildung eines oder mehrerer großer Forschungszentren nötig und möglich ist, sollen weiterführende konzeptionelle Planungen ergeben. Hierbei sollten alle Aspekte der Energieforschung, von den Technikwissenschaften über die Naturwissenschaften bis hin zu den Sozial- und Geisteswissenschaften, vereint werden. In derartigen Strukturen müsste es möglich sein, Technologien durch Forschung und Entwicklung bis zur Marktreife zu betreuen. Die Finanzierung müsste langfristig gesichert sein. Wegen der Bedeutung der wissenschaftlichen Ausbildung des Nachwuchses muss Wert auf eine enge Anbindung an universitäre Forschung und Lehre gelegt werden.

Den Universitäten kommt in einer zukünftigen Struktur eine besondere Bedeutung zu, da sie in vielen Bereichen der Energieforschung Spitzenleistungen erbringen sowie den wissenschaftlichen Nachwuchs für die Energieforschung ausbilden. Um an Universitäten den systemischen Charakter der Forschung zu stärken, sind einerseits themenspezifische Verbünde und andererseits interdisziplinäre Exzellenz-Cluster oder Kompetenzzentren dringend zu empfehlen. Auf diese Weise können bestimmte Problembereiche der Energieversorgung und der Energienachfrage interdisziplinär und vernetzt erforscht werden. In der Lehre fehlt es an fundiert, breit und fachübergreifend ausgebildetem Nachwuchs im Bereich Energie. Hier sollten vor dem Hintergrund des Querschnittcharakters des Themas Energie enge Verknüpfungen zwischen Disziplinen wie Maschinenbau, Material- und Werkstoffwissenschaften, Elektrotechnik, Chemie, Physik, Biologie, Volkswirtschaftslehre und Sozialwissenschaften hergestellt werden. Entsprechende Studiengänge sollten etabliert werden. Promotionen und Promotionskollegs mit einem solchen übergreifenden Forschungsansatz sind zur Nachwuchssicherung empfehlenswert.

Hinsichtlich der notwendigen Kooperation zwischen Hochschulen, außeruniversitären Forschungseinrichtungen und der Industrie ist die Projektförderung in ihrer derzeitigen Struktur für die Energieforschung meist noch zu diskontinuierlich und für Forscherinnen und Forscher an den Hochschulen oft wissenschaftlich nicht attraktiv genug ausgestaltet. Zur Verbesserung dieser Situation sollte die Förderung verstärkt auf die genannten Verbünde, Cluster und Zentren konzentriert werden, um den bestmöglichen Wirkungsgrad der Fördermittel zu erreichen. Dennoch sollte immer auch Raum für innovative Einzelansätze bleiben.

Die Förderung der Energieforschung in Deutschland hat in den letzten Jahren schon zunehmend interdisziplinäre Aspekte und eine systemische Betrachtung einbezogen. Dennoch ist die systemische Sicht in der Energieforschung noch zu wenig verbreitet, was sich nicht zuletzt auch in einer Fragmentierung der Zuständigkeiten in der Forschungsförderung niederschlägt. Effiziente Energieforschung bedarf aber klarer Zuständigkeiten. Daher sollte ein mit Richtlinienkompetenz ausgestattetes gemeinsames Koordinierungsgremium „Energieforschung“ (mit einer Struktur wie die BW+ Initiative des Landes Baden-Württemberg) etabliert werden, in dem neben den Ressorts auch unabhängige Wissenschaftler vertreten sein sollten. Ein solches Gremium würde die vielfach zu einzelnen Förderprogrammen existierenden Beiräte ablösen. Alternativ dazu könnte die Zuständigkeit für die Energieforschung sogar in einem Ressort zusammengeführt werden. Einem solchen Ministerium sollte ein wissenschaftlicher Beirat zur Seite gestellt werden. Im Aufbau eng gekoppelter und vernetzter Strukturen liegt eine der größten Chancen für eine effiziente, zielgerichtete und nachhaltige Energieforschungspolitik.

Leopoldina

Elmar König

Leiter der Abteilung Wissenschaft – Politik – Gesellschaft, Leiter Berliner Büro

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