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Medizin und Biowissenschaften im Nationalsozialismus

Medizinische Forschung während der Zeit des Nationalsozialismus entsprach durchaus den damaligen wissenschaftlichen Standards. Allerdings wurde Forschung an Menschen vielfach unter Zwang ausgeführt und widersprach damit ethischen Standards. Zugleich wurden Forscher und Ärzte verfolgt und vertrieben. Die Folgen für die Betroffenen und die mit dieser Forschung verbundenen Mentalitäten sind bislang kaum untersucht. Der Wissenschafts- und Medizinhistoriker Prof. Dr. Paul J. Weindling ML (Oxford), der 2015 mit dem Anneliese Maier-Forschungspreis der Alexander von Humboldt-Stiftung ausgezeichnet wurde, untersucht in diesem Projekt das Verhältnis von wissenschaftlicher Rationalität und Menschenrechten in Medizin und Biowissenschaften im Zeitalter der Extreme.

Im Rahmen einer fünfjährigen Forschungskooperation zwischen Paul J. Weindling und dem Zentrum für Wissenschaftsforschung werden drei Teilprojekte bearbeitet:

1. Opfer medizinischer Forschung im Nationalsozialismus

Die Untersuchung medizinischer Forschung zwischen 1933 und 1945 blieb bisher weitgehend auf die Täterperspektive beschränkt. Erfahrungen und Reaktionen der Opfer auf die Experimente haben hingegen keine systematische Aufmerksamkeit gefunden. Das Projekt untersucht die Fundierung medizinischer Forschung. Der Fokus wird dabei nicht allein auf Konzentrationslager gelegt, vielmehr werden auch andere geschlossene Institutionen wie Gefängnisse, psychiatrische Kliniken und Ghettos sowie populationsbasierte Forschung in der „Normalbevölkerung“, etwa im Kontext der eugenisch motivierten „Erbgesundheits“-Politik, einbezogen. Die Stimmen der Opfer tragen u.a. zur Rekonstruktion von konkreten Forschungspraktiken und -methoden bei.

2. Die „Rassifizierung“ der Forschung in medizinischen Dissertationen und Habilitationen

Die „Zwangsforschung“ während der NS-Zeit hatte weitreichende Folgen für die Medizin nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Mediziner der Nachkriegszeit bilden eine Generation, deren Qualifikationsschriften vermutlich zu einem erheblichen Teil auf der Basis von Zwang entstanden sind. Das Thema galt jedoch in der historischen Forschung bislang eher als abweichend, daher gibt es noch keine systematische Analyse medizinischer Qualifikationsarbeiten während der NS-Zeit. Nun wird es in das Zentrum gerückt: Ziel des Projekts ist es, medizinische Dissertationen und Habilitationen aus der NS-Zeit in möglichst großem Umfang zu identifizieren und auf Forschungsthemen, Methoden und die Rekrutierung von Probanden hin auszuwerten.

3. Vertriebene medizinische Forscher, Ärzte und Mitglieder weiterer Heilberufe

Während es einige Studien zu prominenten exilierten Wissenschaftlern gibt, fehlen entsprechende Arbeiten für verfolgte „normale“, heute weniger bekannte Ärzte, Psychologen/Psychotherapeuten oder Krankenpflegepersonal. Studien zur erzwungenen Emigration werden im Projekt mit der Erforschung der Wiederansiedlung oder -eingliederung verbunden. Damit entsteht auch eine Geschichte des Wissenstransfers der klinischen Forscher, eines Typus, der in den 1930er Jahren außerhalb Deutschlands weitgehend unbekannt war. In der Projektarbeit werden in Zusammenarbeit mit deutschen und internationalen Kooperationspartnern vollständige Kohorten von Migranten untersucht und damit auch jene eingeschlossen, die unter der Emigration sehr viel deutlicher zu leiden hatten als die prominenten Wissenschaftler. Als Referenzquelle wird eine bereits bestehende Datenbank zu Medizin-assoziierten Flüchtlingen nach Großbritannien (1930-1945), die derzeit etwa 5.400 Individuen umfasst, an der Leopoldina angesiedelt. Diese wird Ausgangspunkt und methodischer Anker künftiger Studien auch für andere Länder werden.

Die Forschung der Arbeitsgruppe kann nachhaltige Wirkungen auf die deutsche Forschungslandschaft erzielen: Aufgezeichnete Opferberichte, Datenbanken und Biographien werden an der Leopoldina archivalisch und digital hinterlegt, um für die zukünftige deutsche und internationale Forschung als Ressource zur Verfügung zu stehen. Sie dienen zugleich als zentrale Referenzstelle für betroffene Familien.

Projektleitung:

Projektbearbeitung:

  • Salina Grünwald
  • Dr. Aisling Shalvey, Link zum CV
  • Oliver Mahrle

Ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

  • Dr. Anna von Villiez (Hamburg)
  • Nikolas Schröder (Halle/Saale)
  • Dr. Aleksandra Loewenau (Oxford)
  • Nichola Farron (Amsterdam)

Projektlaufzeit

2015 - 2022

Veranstaltungen

Medizin im Nationalsozialismus: Kulturen, Strukturen, Lebensgeschichten
Frühjahrestagung des Zentrums für Wissenschaftsforschung, Halle, 13.-14. Juni 2022

Dark Years: The Legacy of Euthanasia
Filmvorführung mit Kurzvorträgen und Diskussion, Halle, 27. November 2018

Völkische Ideologie und Hygiene – Der SS-Arzt Joachim Mrugowsky (1905-1948)
Leopoldina-Vortrag von Dr. Florian Bruns, Halle, 8. Dezember 2016

Die ‚Säuberung‘ der deutschen Universitäten 1933-1945
Leopoldina-Vortrag von Prof. Dr. Michael Grüttner (Berlin), Halle, 7. September 2016

Wissenschaftshistorisches Seminar „Vom Präparat zur Person: die Wiederherstellung der Identitäten von NS-Versuchsopfern“
Prof. Dr. Paul J. Weindling ML (Oxford), Halle, 1. Dezember 2015

Hirnforschung im Nationalsozialismus, Euthanasie und die Frage der Opfer
Leopoldina-Symposium und Arbeitsgespräch vom 29.11. bis 1.12.2015, Halle, Studienzentrum

KONTAKT

Leopoldina

Prof. Dr. Rainer Godel

Leiter der Abteilung Zentrum für Wissenschaftsforschung

Tel. 0345 - 47 239 - 115
Fax
E-Mail rainer.godel (at)leopoldina.org