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NAL-live

The New (Old) Genetics, Version 2.0 (2023)

Bd. 2020.1

Diethard Tautz ML, R. Guy Reeves und Luisa F. Pallares

Herausgegeben von Alfred Wittinghofer, Herbert Jäckle

(2023, 15 Seiten, 5 Abbildungen, Version 2.0 , ISSN: 2699-8955)

Wenn man an Genetik denkt, kommt einem als Erstes Mendel in den Sinn. Mendels Gesetze werden schon früh in der Schule gelehrt, und für viele Schulabgänger bleiben sie der einzige Kontakt mit der Genetik. Gelbe und grüne Erbsen werden verwendet, um zu zeigen, wie Merkmale vererbt werden, wie Vermischung und Aufspaltung einzelner Merkmale auftreten können. Doch obwohl ein solches kategoriales Denken die Entwicklung der modernen Molekulargenetik beflügelt hat, spiegelt es nicht die Tatsache wider, dass weder die Körperformen und Verhaltensformen, noch deren Vererbung mit diesen Begriffen beschrieben werden können. Stattdessen gelten für die meisten sichtbaren und messbaren Ausprägungen von Organismen die Regeln der quantitativen Genetik. Die Prinzipien der quantitativen Genetik wurden von einem Zeitgenossen von Mendel – Francis Galton – ausgearbeitet. Sie haben jedoch lange Zeit ein Schattendasein geführt und waren meist nur Tier- und Pflanzenzüchtern bekannt. In der quantitativen Genetik herrscht die Statistik vor. Es gibt keine kategorialen Unterscheidungen, wie grüne und gelbe Erbsen, sondern nur kontinuierliche Verteilungen, wie z. B. die Körpergröße.

Mit den Werkzeugen der Genomik ist es nun möglich, für jedes einzelne Gen im Genom zu bestimmen, welchen Anteil es an einem kontinuierlichen Merkmal hat, z. B. der Körpergröße. Man kann dann fragen, wie viel von der Gesamtgröße auf jede der genetischen Varianten zurückzuführen ist. Um solche Daten zu erhalten, mussten mehrere hunderttausend Individuen mit Millionen von Varianten durchmustert werden. Die Ergebnisse zeigten, dass die Körpergröße durch die Varianten sehr vieler Gene mit jeweils sehr geringen Auswirkungen bestimmt wird. Einige Genetiker gehen inzwischen sogar davon aus, dass letztlich alle Gene in einem Genom zu jedem Phänotyp in unterschiedlichen Anteilen beitragen, das sogenannte „omnigene Modell“.

Obwohl die quantitative Genetik lehrt, dass es keine genetischen Kategorien gibt, ist unser Denken immer noch hauptsächlich von Kategorien geprägt. So ist es für uns leicht nachvollziehbar, dass die Kategorien „männlich“ und „weiblich“ durch die Verteilung der X- und Y-Chromosomen nach den Mendelschen Regeln bestimmt sind. Es scheint jedoch komplizierter zu sein, zu erkennen, dass die Prinzipien der quantitativen Genetik auch für viele andere Merkmale gelten, die wir mit männlichen und weiblichen Kategorien in Verbindung bringen, wie z. B. körperliche Eigenschaften, sexuelle Vorlieben und sexuelles Verhalten. Anstelle einer klaren Trennung von männlich und weiblich finden wir in der Natur also eine kontinuierliche und sich überschneidende Verteilung von Körperformen und Verhaltensformen. Wenn in unseren Schulen immer quantitative Genetik gelehrt worden wäre, hätten viele Missverständnisse über Genetik und Vererbung vermieden werden können.

ML = Mitglied der Leopoldina

doi.org/10.34714/leopoldina_NAL-live_0001_02000

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