Leopoldina Home Menü

Leopoldina Home

Jahresversammlung 2019

Kurzfassungen der Vorträge

Freitag, 20. September 2019

Kurzfassungen der Vorträge

Foto: Markus Scholz für die Leopoldina

Zur Jahresversammlung 2019 widmet sich die Leopoldina dem Thema „Zeit in Natur und Kultur“. Vom 20. bis 21. September diskutieren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Halle (Saale) zu technologischen Entwicklungen und gesellschaftlichen Veränderungen. Am Freitag, 20. September wird es um zwei große Themenkomplexe gehen: Zeit in der Physik und Zeit in Technik und Chemie. Zu jeder Sitzung wird es mehrere Vorträge von Leopoldina-Mitgliedern und Nichtmitgliedern geben.

11:30 – 12:30 Uhr | Eröffnungsvortrag

Leben in der digitalen Zeitmaschine

Referentin: Helga Nowotny, Wien, Österreich

Das Zusammenspiel reichlich vorhandener Daten, einmaliger Computerkapazität und durch Deep Learning Verfahren trainierter Algorithmen kurbelt die gegenwärtige Transformation unseres gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens an. Die bisherige Weltordnung wird umgestaltet. Die digitale Transformation verändert auch unsere individuellen und kollektiven Zeitvorstellungen und die Zeitstrukturen, die das Verhältnis von Menschen und Maschinen bestimmen. Gegenwärtig entstehen digitale Zeitmaschinen, die auf der Künstlichen Intelligenz als Prognosemaschinen aufbauen. Sie sollen die Kosten für Entscheidungen (und Daten) senken und die Wirtschaft effizienter machen. Doch das Leben mit und in solchen digitalen Zeitmaschinen bedeutet in einer deterministischen Welt zu leben, in der zeitliche Strukturen vorherbestimmt und automatisiert werden. Digitale Zeitmaschinen vertiefen die digitale Kluft weiter, indem sie Gesellschaft in Parallelwelten fragmentiert, in denen Menschen in datenreichen und datenarmen Zeitzonen leben. Ihre Lebenschancen werden noch ungleicher wenn diese Zeitzonen zeitlich inoperabel sind.

Wie wird sich die Dynamik der digitalen Zeitstrukturen im Licht einer Ko-Evolution von Menschen und Maschinen entfalten? Können wir eine humanistische Dimension in die Digitale Zeitmaschine einbauen, eine Eigenzeit für das digitale Zeitalter?

 

14:00 – 16:15 Uhr | Sitzung I – Zeit in der Physik

Attoclock und Tunnelzeit: Zeitmessung in der Quantenmechanik

Referentin: Ursula Keller, Zürich, Schweiz

Wie lang ist ein Tunnel- oder ein Ionisationsereignis? Während sich diese Frage einfach anhört, muss man klar definieren, was man mit „wie lange“ oder „wie schnell“ meint, um Missverständnissen vorzubeugen. Tunneln und Ionisieren ist von Natur aus ein quantenmechanischer Prozess, und die Quantenmechanik liefert statistische oder probabilistische Beschreibungen. Daher kann eine Rate leicht bestimmt werden und hat eine klare Bedeutung. In Bezug auf die spezifische Zeitdauer eines einzelnen Prozesses bleibt eine hitzige Debatte. Gewisse argumentieren, dass solche Fragen nicht gestellt werden dürfen, weil Zeit in der Quantenmechanik nicht beobachtbar ist. Andere wiederum argumentieren, wir sollten einfach den Elektronenwellenpaketen folgen, und ihre Gruppenverzögerungen bestimmen die Ionisationszeit.

Letzteres trifft nicht immer zu und kann zu irreführenden Ergebnissen führen, da es kein „Erhaltungsgesetz“ für den Peak oder den Schwerpunkt des Wellenpakets gibt. Die zeitabhängige Schrödinger-Gleichung (TDSE) kann in den meisten Fällen nicht ohne Näherungen gelöst werden. Semiklassische Modelle scheinen dagegen viele aktuelle Attosekundenmessungen überraschend gut zu erklären. In diesem Vortrag werden die neuesten Fortschritte bei Attosekundenmessungen in der Quantenmechanik in Bezug auf Tunnel- und Ionisationszeiten besprochen.

 

Eine Zeitreise zum Urknall

Referentin: Felicitas Pauss, Genf, Schweiz

Unsere Zeitreise zum Urknall – eine Archäologie des Universums – führt uns von den unendlich grossen kosmischen Dimensionen unseres sichtbaren Universums zu den unendlich kleinen Dimensionen in den ersten Augenblicken nach dem Urknall.

Teilchenbeschleuniger wie der Large Hadron Collider (LHC) am CERN an der schweizerisch-französischen Grenze bei Genf sind Supermikroskope, mit denen wir den Mikrokosmos erforschen können. Mit dem LHC untersuchen wir im Detail die Wechselwirkungen zwischen den Grundbausteinen der Materie. Darüber hinaus können auch die wichtigen Fragen nach neuen Formen der Materie und neuen Symmetrien untersucht werden. Der LHC ist aber auch eine "Zeitmaschine", die es uns ermöglicht, die physikalischen Gesetze der ersten Momente nach dem Urknall zu studieren.

Der Vortrag beleuchtet den gegenwärtigen Stand und die Zukunftsperspektiven dieser faszinierenden Forschung. Der Zusammenhang zwischen Grundlagenforschung und Innovation spielt dabei eine genauso wichtige Rolle wie das Zusammenspiel von grossen internationalen Kollaborationen.

 

Der Pfeil der Zeit

Referent: Wolfgang P. Schleich, Ulm

Viele fundamentale Gleichungen der Physik, wie z. B das Newtonsche Gesetz der klassischen Mechanik oder die Maxwell-Gleichungen der Elektrodynamik sind zeitinvariant. Dies bedeutet, dass wenn man einen Film, der ein Phänomen der Mechanik beschreibt, rückwärts laufen lassen würde, so würde die gezeigte Handlung mit den Gesetzen der Natur in Einklang stehen. Andererseits spüren wir im täglichen Leben, dass die Zeit dennoch nur in einer Richtung fortschreitet und die Vergangenheit uns nicht zugänglich ist. Diese Tatsache ist in dem Begriff Pfeil der Zeit zusammengefasst.

Im Rahmen dieses Vortrags werden einige Vorschläge für den Pfeil der Zeit diskutiert und Besonderheiten wie das Gödel Universum vorgestellt. Angeregt durch Diskussionen mit Albert Einstein hat der Mathematiker Kurt Gödel 1949 eine exakte kosmologische Lösung der Feldgleichungen der allgemeinen Relativitätstheorie mit geschlossenen Weltlinien gefunden. Somit sind Zeitreisen nicht mehr ausgeschlossen und man kann in seine eigene Vergangenheit reisen. Anhand von Computeranimationen werden wir dieses Universum näher illustrieren.

 

16:45 – 18:15 Uhr | Sitzung II – Zeit in Chemie und Biologie

Time and the Origins of Biological Complexity

Referent: Paul B. Rainey, Plön

Life is hierarchically structured, with replicating entities nested within higher order self-replicating structures.  Take, for example, multicellular life: the multicellular entity replicates, as do the cells that comprise the organism.  Inside cells are mitochondria that also have capacity for autonomous replication; the same is true of chromosomes within the nucleus, and of genes that comprise chromosomes.  Such hierarchical structure reflects a series of major evolutionary transitions in which lower order self-replicating entities became subsumed within higher order structures.  Crucial for each transition was the establishment of conditions that allowed selection to operate over timescales longer than the replication rate of lower level particles.  Giving prominence to often overlooked ecological factors, I will discuss how timescales of relevance to evolution arise, and the impacts of multiple timescales on the evolution of life’s complexity, including its hierarchical structure.

Biomolekulare Simulationen mit mehreren Auflösungsniveaus und Zeitskalen: ein Überblick über methodische Aspekte

Referent: Wilfred F. van Gunsteren, Zürich

Theoretische und computergestützte Modellierungen, die der Erklärung experimenteller Beobachtungen im Hinblick auf ein bestimmtes chemisches Phänomen oder einen bestimmten chemischen Prozess dienen, erfordern eine Reihe von Annahmen. Diese Annahmen betreffen die essentiellen Freiheitsgrade, die Art der Wechselwirkungen und die Erzeugung eines Boltzmann-Ensembles oder einer Konfigurationstrajektorie. Abhängig von den Freiheitsgraden, die für den interessierenden Prozess unabdingbar sind, wie z.B. elektronische, nukleare oder atomare, molekulare oder supramolekulare, müssen quanten-mechanische oder klassisch-mechanische Bewegungsgleichungen angewendet werden. In Simulationen mit unterschiedlichen Auflösungsniveaus werden verschiedene Ebenen wie elektronische, atomare, supra-atomare oder supramolekulare Ebenen in einem einzigen Modell vereint. Dies erlaubt eine Steigerung der Recheneffizienz, wobei eine ausreichende Genauigkeit im Hinblick auf die bestimmten Freiheitsgrade erhalten bleibt. Ein Überblick über die grundlegenden Herausforderungen und Annahmen in Bezug auf Modellierungen mit unterschiedlichen Auflösungsniveaus wird gegeben.

 

20:15 Uhr | Abendvortrag

Rhythm, Timing, and Movement: How the Brain Responds to Musical Rhythm

Referentin: Jessica Grahn, London, UK / Ontario, Kanada

Moving to music is an instinctive, often involuntary activity, experienced by those in all cultures. The talk will take a neuroscientific perspective on why humans may move to music, and how the brain’s movement centres light up in response to music and rhythm, even when we aren’t moving a muscle. Do those individuals who have trouble moving to the beat still feel compelled to move to it? We will discuss individual variation, and the importance of considering the individual when exploring the exciting potential held by some musical interventions for those with degenerative neurological diseases such as Parkinson’s disease.