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Jahresversammlung

Zeit in der Perspektive von Physik und Philosophie

Interview mit Prof. Dr. Thomas Lengauer, wissenschaftlicher Koordinator der Jahresversammlung

Zeit in der Perspektive von Physik und Philosophie

Foto: Christoph Rieken für die Leopoldina

Das Thema der Leopoldina-Jahresversammlung 2019 ist „Zeit in Natur und Kultur“. Während Physiker Zeit in immer kleinere Einheiten zerlegen und Biologen die Zeitgeber in unserem Gehirn analysieren, ist das Wesen der Zeit für die Philosophie noch immer ein Mysterium. Der Mathematiker und Informatiker Prof. Dr. Thomas Lengauer, Mitglied des Präsidiums der Nationalen Akademie der Wissenschaften, konzipierte die Tagung.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, die Zeit ins Zentrum der Jahresversammlung zu stellen?
Thomas Lengauer: Die Idee ist gar nicht von mir. Wir bitten immer die Mitglieder der Leopoldina um Vorschläge, und diese Idee kam von drei Mitgliedern der Sektion Anatomie und Anthropologie, Prof. Dr. Horst Werner Korf, Prof. Dr. Elmar Peschke und Prof. Dr. Bernd Herrmann. Darin ging es zunächst nur um Chronobiologie und Chronomedizin. Und weil das Thema Zeit mich seit meiner Kindheit fasziniert, habe ich spontan im Präsidium vorgetragen, was man über die Zeit alles machen kann. Daraufhin hieß es: Dann koordinieren Sie auch die Tagung.

Woher kommt Ihre Faszination für Zeit?
Ich hatte als zehnjähriger Junge ein Schlüsselerlebnis: Nach einer Operation lag ich im Krankenhaus und hatte Heimweh. Und plötzlich ging mir auf, dass dieser Zeitpunkt, obwohl er ja nicht schön war, völlig einzigartig war, dass er nicht wiederkommen würde. Und dieses Gefühl, auf einer Zeitschiene zu laufen, die Unwiederbringlichkeit der Vergangenheit und die Unbekanntheit der Zukunft, das ist einfach ein Mysterium. Und seitdem interessiert mich die Zeit.

Was antworten Sie, wenn jemand argumentiert: Wir haben aktuell viele brennende Probleme wie Digitalisierung, Migration, Klimawandel, und die Gelehrten denken über ein – pardon – zeitloses Thema wie das Wesen der Zeit nach?
Die Akademie tut genug zu aktuellen Anlässen, die Stellungnahme zum Thema Luftschadstoffe im April und die Empfehlung für ein neues Fortpflanzungsmedizingesetz im Juni sind zwei Beispiele dafür. Aber eine Wissenschaftsakademie adressiert eben auch die zeitlosen, grundlegenden Fragen, und eine entsprechende Tagung ehrt die Akademie und unterstreicht ihren Charakter.

Haben der Philosoph, der über das Wesen der Zeit nachdenkt, und die Physikerin, die sich mit Attosekunden  befasst, einander etwas zu sagen?
Gerade Norman Sieroka, der zur Jahresversammlung kommt, ist nicht nur Philosoph, sondern auch promovierter Naturwissenschaftler, und er wird intensive Verbindungen ziehen zu den Vorträgen über Kosmologie, den Zeitpfeil und das Zeitempfinden. Es gibt ja das lineare Modell der Zeit, dem wir unterliegen, seit wir Zeit messen, und das zirkuläre, periodische Modell. Das war eher im Herzen des Menschen, solange es keinen Begriff von Fortschritt gab. Zwei unterschiedliche Herangehensweisen an die Zeit, die physikalisch untermauert sind und die der Philosoph in Perspektive setzen wird.

Gehen Sie bei der Auswahl der Vortragenden zuerst das Mitgliederverzeichnis der Leopoldina durch?
Nein, gar nicht. Aber wir greifen auf die Kenntnis und das Umfeld unserer aktiven Mitglieder zurück. Zum Teil haben wir aber auch Redner durch Literatur- und Internetrecherche gefunden.

Ist es leicht, internationale Rednerinnen und Redner zu bekommen?
Wenn ich jemanden im Ausland anspreche und sage, dass ich von der Leopoldina komme, fragen schon noch manche nach. Und da hilft es uns sehr, dass unsere Mitglieder auch über persönliche Beziehungen überzeugen können. Da leisten die Redner dann teils einen wissenschaftlichen Freundschaftsdienst.

Wann würden Sie von einer gelungenen Jahresversammlung sprechen?
Ich freue mich auf eine ganze Menge Menschen, die nicht alteingesessene Leopoldina-Mitglieder sind. Wir haben immer 50 Schülerinnen und Schüler dabei, die vorab an einem Auswahlverfahren teilnehmen. Wir werden die Veranstaltung auch bewerben, und ich hoffe, dass sie über den engen wissenschaftlichen Kreis hinaus auf Interesse trifft.